Gedanken für den Tag

von Reinhold Stecher. "Weihnachten kann man riechen"

Und trotzdem: Weihnachten kann man riechen. Es riecht nach Tannenzweigen, Keksen und Weihrauch - ein Duft, der nicht jedem liegt, manchen sogar an das Diktum vom "Opium für das Volk" erinnert. Dennoch ist es gut, wenn der Weihrauchduft in dieser Zeit aus dem Bereich des Sakralen ausbricht und in die Räume des Alltags wandert, findet der Innsbrucker Altbischof Reinhold Stecher.

Am 22. Dezember wird der Theologe, Bergsteiger, passionierte Maler und Autor Reinhold Stecher 90 Jahre alt. Aus seinem Buch "Die leisen Seiten der Weihnacht" hat der bekannte Innsbrucker Altbischof Texte zu den turbulenten und zu den stillen Momenten der letzten Tage vor Weihnachten gelesen.
Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer.

Weihnachten kann man riechen. Natürlich gibt es gegen Weihrauch auch Vorbehalte. Nicht nur der, dass ihn nicht jeder verträgt. Bei Manchen löst Weihrauch eher negative Assoziationen aus, für die der Weihrauch nichts dafür kann. So mancher wittert hinter dem süßlichen Duft vielleicht sogar den Ausdruck einer Religiosität, mit der er nicht viel anfangen kann. Möglicherweise sogar im Sinn des Ausspruchs "Religion sei Opium für das Volk", wenn man es ideologisch formulieren will. Oder man empfindet die betäubenden Weihrauchschwaden als Symbol für ein übertriebenes Würdegehaben. Da ist was dran. Mein höchstorigineller aber grundvernünftiger Pfarrer Dominikus Dietrich von Wilten hat mich nach der Primiz ein wenig zur Seite genommen, um mir eine Lebensregel zuzuflüstern. "Reinhold", hat er gesagt, "einen guten Rat will ich dir geben. Mach beim Weihrauch keinen Brustzug, das verdirbt den Charakter." Er hat diesen Weihrauchvorbehalt ganz richtig gespürt, weil er ein Kirchenmann mit großer Erfahrung war und ich muss offen zugeben, dass in den höheren Etagen der Kirche manchmal zu viel inhaliert wurde.

Dem Weihrauch geschieht mit Missbräuchen dieser Art großes Unrecht. Als der Weihrauch mit den Gaben der Drei Weisen aus dem heutigen Irak nach Bethlehem zur Krippe kam, hatte er bereits einen weiten Weg durch die Räume der Menschheit hinter sich. Durch die uralten Kulturen des Orients. Er hatte ägyptische Tempel und Grabkammern erfüllt und war von babylonischen Stufentürmen zum Himmel gestiegen, wurde im heiligen Zelt Israels gestreut und er hat das Allerheiligste des Tempels von Jerusalem durchströmt. Er steigt als Symbol der Ergriffenheit vor dem Ewigen empor. Seine Wolken wandern den Weg des Herzens, das vor Gott erschauert, er ist das Rauchsignal der Anbetung. Darum ist es sicher richtig, wenn der Duft an diesem Abend aus den Bereichen des Sakralen ausbricht und in die Räume des Alltags wandert, in denen die Anbetung selten ein Gastrecht hat. Ohne sie ist das Menschsein ein Torso, Weihrauch ist das uralte Symbol einer vom Unsagbaren ergriffenen Welt.

Service

Buch, Reinhold Stecher, "Die leisen Seiten der Weihnacht", Verlag Tyrolia

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Titel: GFT 111220 Gedanken für den Tag / Reinhold Stecher
Länge: 03:49 min

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