Gedanken für den Tag

von Sunnyi Melles. "Die Bühne in mir" - Gedanken rund um den Welttheatertag. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Anno 1928 hat Max Reinhardt an der Columbia University in New York einen Vortrag gehalten: Rede über den Schauspieler.

Alle großen Dramatiker waren geborene Schauspieler, gleichviel, ob sie diesen Beruf auch tatsächlich ausübten. Shakespeare ist der größte und ganz unvergleichliche Glücksfall des Theaters. Er war Dichter, Schauspieler und Direktor zugleich. Er malte Landschaften und baute Architekturen mit seinen Worten. Er hat es dem Schöpfer am nächsten getan. Er hat eine zauberhafte, vollkommene Welt geschaffen: die Erde mit allen Blumen, das Meer mit allen Stürmen, das Licht der Sonne, des Mondes, der Sterne; das Feuer mit allen Schrecken und die Luft mit allen Geistern, und dazwischen Menschen. Menschen mit allen Leidenschaften, Menschen von elementarer Großartigkeit und zugleich von lebendigster Wahrheit. Shakespeares Allmacht ist unendlich, unfassbar. Er war Hamlet und König Claudius, Ophelia und Polonius in einer Person. Othello und Jago. Falstaff, Shylock und Antonio. Das ganze Gefolge von lustigen und traurigen Narren lebte in seinem Innern. Sie sind alle Teile seines unerforschlichen Wesens. Er selbst schwebt wie eine Gottheit darüber, unsichtbar und unerkannt.

Die autosuggestive Kraft des Schauspielers ist so groß, dass er nicht nur innere seelische, sondern auch äußere körperliche Veränderungen hervorzubringen vermag. Und wenn man an jene vielbesprochenen Wunder denkt, ist dies derselbe Prozess, den Shakespeare beschreibt, wenn er sagt, dass der Schauspieler sichtlich Miene, Gestalt, Haltung, das ganze Wesen verändern und um ein fernes oder erdichtetes Schicksal weinen - und weinen machen kann.

Service

Buch, Max Reinhardt, "Ich bin nichts als ein Theatermann", Verlag Henschel

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Sendereihe

Playlist

Titel: GFT 120327 Gedanken für den Tag / Sunnyi Melles
Länge: 03:49 min

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