Im Gespräch

"Der untere Rand der Gesellschaft ist dabei, sich aus der Demokratie zu verabschieden."
Michael Kerbler spricht mit Paul Nolte, Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte

"Wird die Demokratie ungerecht?" lautet der Titel eines Buches, das der deutsche Jurist und Soziologe Felix Ekardt im Jahr 2007 publiziert hat. Ist die Fragestellung - angesichts der globalen Veränderungen - so überhaupt noch gültig? Müsste die Frage nicht richtigerweise lauten "Ist die Demokratie ungerecht?"

Der demokratisch verfasste Staat im 21. Jahrhundert verliert zunehmend an Souveränität. Macht und Politik im Nationalstaat sind geschieden, weil der Nationalstaat sich auflöst und die wirklich wichtigen ökonomischen Entscheidungen im globalen Raum fernab jeder demokratischen Kontrolle getroffen werden. Die Fragmentierung der Gesellschaft beschleunigt sich, der Einzelne - auf sich allein gestellt - erlebt die Gesellschaft nicht mehr als Gemeinschaft, sondern bestenfalls als Netzwerk. Den einzelnen Staatsbürger beschleicht das Gefühl, nicht mehr der Souverän, nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein. Wobei festzustellen ist, dass das Ausmaß des Misstrauens gegenüber der repräsentativen Demokratie an Bildung und Einkommen gekoppelt ist. Paul Nolte, er ist Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin, meint: "Der untere Rand der Gesellschaft ist dabei, sich aus der Demokratie zu verabschieden."

Die Demokratie ist also ins Gerede gekommen, mit der Konsequenz, dass die Wahlbeteiligung schwindet, die Skepsis der Bürger gegenüber der so genannten politischen Klasse zunimmt. Kein Wunder: die Regierungen wirken machtlos im Kampf um die Regulierung der globalen Finanzmärkte. Doch zugleich ist in Nordafrika und im arabischen Raum eine demokratische Aufbruchsbewegung entstanden, in die Millionen Menschen ihre Hoffnungen setzen. In China rufen mutige Dissidenten wie Liu Xiaobo nach mehr Freiheit und Menschenrechten. Was aber meinen wir eigentlich, wenn wir von Demokratie sprechen? Brauchen wir mehr direkte Beteiligung des Volkes? Und: stößt die Demokratie in einer globalen und multikulturellen Welt an die Grenzen ihrer Möglichkeiten?

"Wir werden in diesem Land nur so viel Ordnung haben, wie wir an Mitverantwortung ermutigen", sagte im Herbst 1969 der deutsche Kanzler Willy Brandt, in einer Rede, die in den Satz mündete: "Wir müssen mehr Demokratie wagen." Im Gespräch mit Paul Nolte versucht Michael Kerbler auszuloten, was es heute braucht um die Demokratie neu zu beleben und sie zu verteidigen.

Service

Paul Nolte, "Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart", Beck'sche Reihe des C.H. Beck Verlags, München (ISBN 978 3 406 63028 6)

Henry David Thoreau, "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat", zweisprachige Ausgabe, Diogenes Verlag, Zürich (ISBN 978-3-257-06823-8)

Henry David Thoreau, "Wo und wofür ich lebte", Hörbuch, Auszüge aus "Walden", gelesen von Burghart Klaußner, Diogenes Hörbuch (ISBN 978-3-257-80324-2)

Pierre Rosavallon, "Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit - Reflexivität - Nähe", aus dem Französischen übersetzt von Thomas Laugstien, Hamburger Edition (ISBN 978-3-86854-215-8)

Catherine Colliot-Thélèn, "Demokratie ohne Volk", aus dem Französischen übertragen von Ilse Utz, Hamburger Edition (ISBN 978-3-86854-232-5)

Richard Wilkinson und Kate Pickett, "Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind", ins Deutsche übersetzt von Edgar Peinelt und Klaus Binder, Tolkemitt Verlag bei Zweitausendundeins (ISBN 978-3-942048-09-5)

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