Gedanken für den Tag

Von Cornelius Hell. "Manche kommen aus dem Staunen nicht heraus, manche nie hinein" - Zum 80. Geburtstag der Schriftstellerin Elfriede Gerstl. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Elfriede Gerstl, die als Kind mit ihrer Mutter vor den Nazis untertauchte und sich "tot oder schon deportiert stellte", hat im Kohlenkeller zu lesen begonnen, wenn die Sonne selten genug durch den kleinen Lichtspalt der Verdunkelung drang und die Nazis nicht mit Bajonetten nach ihr stocherten.

Gebrochen durch Statistiken
und in Fragebögen erfasst
ruhst du sanft
im Fernsehwinkel
bis dir die Rente winkt

Dieses Gedicht von Elfriede Gerstl findet sich im ersten Band der Werkausgabe, der jetzt zu ihrem 80. Geburtstag erscheint. Als Elfriede Gerstl es verfasste, hatte das Fernsehzeitalter gerade erst begonnen. Im Laufe der Jahre wunderte sich Elfriede Gerstl immer wieder über das, was allen selbstverständlich scheint, und ihre Gedichte hielten Schritt mit neuen Moden und Erfindungen. Ein Gedicht aus dem Jahr 2007 heißt "neue plagen", und ihre Aufzählung beginnt so:

der parfümier-terror
das klo riecht wie pfirsich
und lässt mich niesen
einige Zeilen später führt sie an:
die zwangsbeschallung in
cafés und restaurants
Und ebenso zu den neuen Plagen zählt sie:
das handygebrüll
an öffentlichen orten

Von den Gedichten, in denen sich Elfriede Gerstl irritiert wundert über das, was sie täglich zu sehen und zu hören kriegt, hat es mir eines besonders angetan - es trägt den ironischen Titel "schöner sterben":

einfach altmodisch sterben
undokumentiert - videofern
wie eine taube - wie ein maulwurf
längst schlüpfen die medien
In die intimsten momente
man verschwindet nicht mehr
ohne DOKU
die sache muss nur beworben werden

Immer wieder erweist sich Elfriede Gerstl als präzise Diagnostikerin. Was ich an ihren Diagnosen besonders mag, sind die kurz aufblitzenden Konstellationen, die keine lange Argumentation oder Theorie brauchen. Und keine Situation ist zu unbedeutend, dass sie nicht Eingang finden könnte in ein Gedicht. Lapidar und beiläufig kommentiert sie den Alltag. Und am besten ist sie immer, wenn sie über das scheinbar so Selbstverständliche staunt.

Service

Buch, Elfriede Gerstl, "Neue Wiener Mischung. Gedichte und anderes", Literaturverlag Droschl
Buch, Elfriede Gerstl, "Mein papierener Garten. Gedichte und Denkkrümel", Literaturverlag Droschl
Buch, Elfriede Gerstl, "Lebenszeichen. Gedichte, Träume, Denkkrümel", Literaturverlag Droschl
Buch, Elfriede Gerstl, "Mittellange Minis. Werke Band 1", herausgegeben und mit einem Nachwort von Christa Gürtler und Helga Mitterbauer, Literaturverlag Droschl
Buch, Konstanze Fliedl, Christa Gürtler (Hg.), "Elfriede Gerstl", Literaturverlag Droschl
Buch, Christa Gürtler, Martin Wedl (Hg.), "Elfriede Gerstl. wer ist denn schon zu hause bei sich", Paul Zsolnay Verlag

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Sendereihe

Playlist

Titel: GFT 120615 Gedanken für den Tag / Cornelius Hell
Länge: 03:49 min

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