Gedanken für den Tag

Von Johanna Schwanberg. "Malerischer Dialog mit der Bibel" - Gedanken zum 125. Geburtstag von Marc Chagall. Gestaltung: Alexandra Mantler-Felnhofer

Seit seiner Kindheit war Marc Chagall fasziniert von der Bibel, von der er einmal sagte: "Sie scheint mir noch immer die bedeutendste Quelle der Dichtung aller Zeiten zu sein. Seither suche ich im Leben wie in der Kunst nach ihrem Widerschein."

Anhand einzelner Gemälde beleuchtet die Kunstkritikerin Johanna Schwanberg Marc Chagalls Leben und Schaffen als einer der bedeutendsten Maler der Moderne. Im Zentrum steht dabei Marc Chagalls Auseinandersetzung mit religiösen und existentiellen Themen. Als in Weißrussland geborener jüdischer Maler, der in der Metropole der Avantgarde in Frankreich lebt, versucht Chagall eine Bildsprache zu finden, die sowohl seiner jüdischen Identität als auch der christlichen Kunsttradition gerecht wird.

Leid

Brandstiftung, Plünderung und Vertreibung. Eine Welt der Gewalt und Unmenschlichkeit ist auf diesem Bild dargestellt. Der jüdische Maler Marc Chagall hat in seinem Ölgemälde "Die weiße Kreuzigung" das unsagbare Leid gezeigt, das dem Jüdischen Volk im Laufe der Geschichte immer wieder angetan wurde. Angesichts der zunehmenden Judenverfolgung in Europa hatte er es 1937 zu malen begonnen. Kurz nach dem November-Pogrom stellte er es 1938 fertig.

Chagall war selbst der Verfolgung ausgesetzt. Zu Beginn des Hitler-Faschismus wurden einige seiner Bilder öffentlich verbrannt. Später beschlagnahmten die Nationalsozialisten alle Chagall-Werke, die sich in deutschem Museumsbesitz befanden. Und 1941 verhaftete man ihn kurzzeitig in Marseille; dank einer Intervention wurde er wieder freigelassen und konnte in die USA emigrieren.

Chagalls Gemälde über die Judenverfolgungen gehört zu den meist diskutierten Bildern der Kunstgeschichte. Dies liegt an dem zentralen Motiv, das ich bisher verschwiegen habe. Denn inmitten des grauenvollen Geschehens ist riesengroß - das ganze Bildzentrum einnehmend - der gekreuzigte Christus dargestellt. Um die Lenden trägt er einen jüdischen Gebetsschal. Die Figur Christi wird hier zu einem Symbol für das Leiden und Schicksal des jüdischen Volkes. Durch die Gestalt des Gekreuzigten stellt Chagall eine Verbindung zwischen der jüdischen und der christlichen Kultur her: So meinte er nach seiner Israelreise 1931: "Hier spürte man, dass das Judentum und Christentum ein und derselben Familie angehörten."

Mich interessiert die "Weiße Kreuzigung" aber auch, weil sie zeigt, was Kunst leisten kann. Sie kann zwar nicht unmittelbar gesellschaftsverändernd eingreifen. Aber sie kann Unrecht und Leid sichtbar machen. Mittels einer Bildsprache, die konkret auf Zeitgeschichtliches Bezug nimmt. Und dennoch so vielschichtig ist, dass sie auch Jahrzehnte oder Jahrhunderte später noch Rätsel aufgibt.

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Titel: GFT 120707 Gedanken für den Tag / Johanna Schwanberg
Länge: 03:49 min

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