Gedanken für den Tag

1. Dezember 2012, 06:56

Lesen ist ja bekanntlich Abenteuer im Kopf. Lesend bereisen wir uns unbekannte Städte, Länder, ja Kontinente. Lese ich Texte, die beim Literaturpreis Ohrenschmaus ausgezeichnet wurden, erschließen sich mir Welten. Welten die mir sonst unzugänglich sind. Welten, vor denen ich Scheu habe. Der Ohrenschmaus prämiert Werke von Menschen mit Lernschwierigkeiten, oder wie andere sagen, von Menschen mit intellektuellen Behinderungen.

Aufzubrechen aus dem Gewohnten, aufzubrechen aus dem Schoß der Familie, sich abzunabeln ist für jede und jeden ein dramatischer Prozess, selten aber wurde er so präzise beschrieben, wie von Ruth Oberhuber, im Siegergedicht der Kategorie Lyrik im Vorjahr.

Der Durchbruch des Kindes in mir
Regen, Nebel, dann Sonne und Licht.
Der Wind geht eisfischen.
Ich nehme alles wahr.
Ich höre den Bach klingen.
Ich wische mir über meine Augen und bemerke, dass ich
geweint habe.
Ich hatte keinen Ausweg oder ich habe ihn nicht gesehen.
Ich wollte bleiben.
Es war nicht mein Lebensweg, den ich gehen wollte.
Aber, ich bin ihn gegangen.
Ich wollte sehen, ob ich leben kann.
Ich dachte nicht an die Welt.
Ich habe mich als Welt gesehen.
Warum habe ich diesen Text geschrieben?
Ich bin heuer von zu Hause ausgezogen.

Ruth Oberhuber wurde 1993 in Linz geboren, arbeitet in der Mediengruppe des Diakoniewerks Gallneukirchen und ist Mitglied der Theaterwerkstatt Malaria. Die Jury, unter dem Vorsitz von Felix Mitterer hatte sich 2011 für ihr Gedicht entschieden, in dem sie "mit poetisch starken Worten vom Erwachsenwerden und dem Ausziehen von zu Hause erzählt".

Am kommenden Montagabend, wird im Museumsquartier in Wien ihr Nachfolger oder ihre Nachfolgerin für den Lyrikpreis bekanntgegeben. Ich bin gespannt darauf.

Service

Literaturpreis Ohrenschmaus
Diakonie
Alexander Tschernek

Kostenfreie Podcasts:
Gedanken für den Tag - XML
Gedanken für den Tag - iTunes

Sendereihe

• Gedanken für den Tag