Zwischenruf
von Pfarrer Michael Chalupka (Wien)
6. Jänner 2013, 06:55
"Gemeinschafft inmitten der Paralleluniversen"
Das neue Jahr hat begonnen. Wie jedes Jahr mit dem Neujahrskonzert im Wiener Musikverein. Wie Millionen andere auch, habe ich dem Konzert vor dem Fernseher gelauscht, mir von den Philharmonikern ein "Prosit Neujahr" wünschen lassen, dazu einen Matjeshering verdrückt und beim Donauwalzer ein wenig mitgewippt.
Im goldenen Saal des Musikvereins traf sich "die Gesellschaft" - die Gesellschaft von Wien; Menschen, die entweder als Ehrengäste oder Freunde und potente Sponsoren geladen sind, sowie Menschen, die zu den Glücklichen gehörten, die zu einer Karte per Losentscheid gekommen sind - allerdings nicht gratis. Die Kartenpreise für Sitze, auf denen man sehen und hören kann, bewegen sich zwischen 240? und 940? pro Stück. Teil "der Gesellschaft" zu sein, hat eben seinen Preis. Und man braucht auch Glück, um dabei sein zu können.
Von den vormals wohnungslosen Menschen, die in den Häusern der Heilsarmee in Wien ein Obdach gefunden haben, da hatte sich keiner um Karten im Musikverein beworben. Von dem Geld für eine Karte lebt man hier ein Monat bis drei Monate lang. Sogar der Sekt um Mitternacht hatte gefehlt, der aber nicht aus Geldmangel. Bei der Heilsarmee sind alle Feste alkoholfrei, aber umso lustiger. Es ging hoch her bis in die frühen Morgenstunden. Das Neujahrskonzert hat diese Gesellschaft dann verschlafen.
Und in manchen Teilen Ottakrings und in Hernals, da roch der Neujahrstag nach Sarma. Auf dem Balkan sind die mit Reis und Faschiertem gefüllten Krautrouladen das Neujahrsessen, am Neujahrstag und dann die ganze Woche lang. Beim Kochen hört man am besten Blasmusik vom Boban Markovic Orchester - ihr Rhythmus trifft sich mit dem Radetzkymarsch, der aus der Nachbarwohnung dringt.
Man kann sagen: Das ist das Leben. Das Leben spielt auf verschiedene Weise. Gesellschaften leben nebeneinander her. Parallelgesellschaften eben.
Doch es gibt einen Ort, da treffen sich keine Gesellschaften, sondern da findet Gemeinschaft statt. Neujahrsgottesdienste in den Kirchen gehören nicht zu den spritzigsten Ereignissen, mit denen man ins neue Jahr starten kann. So mancher mag verkatert sein, vielleicht sogar die Pfarrerin oder der Pfarrer. Doch eines bleibt einzigartig: In den Kirchen trifft sich nicht eine Gesellschaft, sondern eine Gemeinschaft.
Da sitzt links vorne der pensionierte Eisenbahner mit seiner Frau. Gleich dahinter die ehemalige Volksschuldirektorin, die immer die Predigt mitschreibt, um sie dann dem Pfarrer vorzuhalten. Hinten rechts hat die Familie des Primarius vom örtlichen Krankenhaus ihren Platz. Sie brauchen die ganze Reihe, immerhin fünf Kinder und Großeltern dazu. Die praktische Ärztin mit ihrem Mann sitzt auf der anderen Seite. Seite an Seite mit Frau W. der Mindestrentnerin, die so ausgezeichnete Strudel bäckt und nach dem Gottesdienst großzügig verteilt. Ganz hinten sitzt Herr S., der vor und nach der Kirche mit seinem Becher vor der Kirchentür steht, aber der Einladung des Pfarrers doch während der Liturgie ins Warme zu kommen gefolgt ist. Er sitzt in der letzten Reihe. Es ist noch ungewohnt für ihn mitten unter den anderen zu sein.
Die Kirche ist einer der wenigen Orte, wenn nicht der einzige, an dem sich die Gesellschaften, die sonst parallel leben, treffen. An denen jeder willkommen ist: arm oder reich, alt oder jung. Um dort nicht in Gesellschaft zu sein, sondern eine Gemeinschaft zu bilden. Das ist ein Schatz, der immer weniger Beachtung findet: Menschen kommen nicht zusammen um ihresgleichen zu treffen, sondern um miteinander auf etwas zu hören und miteinander zu sein.
Diesen besonderen Schatz gilt es zu heben - auch in den Kirchen. Die Evangelischen Kirchen haben deshalb das Jahr 2013 als Jahr der Diakonie, als Jahr der solidarischen Nachbarschaft ausgerufen. In diesem Jahr soll bewusster gemacht werden, welches Potential der gegenseitigen Aufmerksamkeit und Achtsamkeit in den Pfarrgemeinden steckt, die ja Gemeinschaften sind und nicht Pfarrgesellschaften. Wird dieser Schatz gehoben, so können Pfarrgemeinden auch zu Knotenpunkten solidarischer Nachbarschaft in einem tragfähigen Netz der Zivilgesellschaft werden und mehr Gemeinschaft stiften in den Paralleluniversen unserer Gesellschaft.