Radiokolleg - Cantare il Gregoriano

Zur Tradition des Choralsingens in Rom (1). Gestaltung: Christina und Martin Höfferer

Die Bocca della Verità ist eines der beliebtesten Touristenmonumente in Rom. Wenige Besucher/innen der ewigen Stadt wissen jedoch, dass zum Wahrheitsmaul eine der bedeutendsten Kirchen Roms gehört, Santa Maria in Cosmedin. In ihrem Inneren, typisch für das erste Jahrtausend nach Christus, ist ein genau definierter Raum der Schola Cantorum vorbehalten. Hier stand der Chor und sang. Zu den beiden Pulten der Kirche führen Stufen, auf Lateinisch Gradus. Dort intonierte der Kantor den Stufengesang, das sogenannte Graduale. Auf diese Weise entstand ein musikalisches Ping Pong Spiel, das Alternieren, mit dem ausgedrückt wird, dass Liturgie immer ein Dialog ist.

Gregorianik ist Theologie in Musik gegossen. "Im Gregorianischen Choral begegnen einander Geschichte und Gegenwart, Spiritualität und Ästhetik, Sinnlichkeit und Intellekt, Glaube und Kultur, Menschheitserfahrung und Ich-Erfahrung, Sprache und Musik, Kunst und Wissenschaft," verdeutlicht Franz Karl Prassl, Professor für Gregorianik in Graz und Rom.

Das, was heute als Gregorianischer Gesang bezeichnet wird, ist eine grundlegende Form der Musik, die durch einen kulturellen Dialog zwischen Norden und Süden entstand. Im achten Jahrhundert wollte König Pippin die wirksame, wahre Liturgie einführen, und die konnte nur aus Rom kommen. Pippin orderte also liturgische Bücher aus Rom, doch da es noch keine Notenschrift gab, musste ein römischer Kantor den Franken das Singen mündlich beibringen. Im Jahr 789 legte Karl der Große fest, dass die sogenannte römische Singweise, die Cantilena Romana, überall im Frankenreich eingeführt werden musste. Im 12. Jahrhundert, als die Melodien durch Noten eindeutig fixierbar waren, stellte sich jedoch heraus, dass das, was in Rom gesungen wurde, völlig anders klang als jene Gesänge, die in Frankenreich als römische Melodie galten. Jener Umformungsprozess, in welchem eine Neukomposition des römischen Repertoires stattgefunden hat, wird wissenschaftlich als fränkisch-römischer Gesang bezeichnet - und allgemein als Gregorianik.

Die heutige Praxis der Gregorianik ist von Region zu Region unterschiedlich. Zweifellos ist in der statistischen Breite das Choralsingen mit der Einführung der Muttersprache in der Liturgie nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil zurückgegangen, doch es handelte sich beim damaligen Choralsingen bereits um eine sehr durchschnittliche und schlampige Praxis des Gesanges. Heute werden an die Gregorianik wieder jene ästhetischen Ansprüche gestellt, die schon die Schöpfer dieser Musik und ihre ersten Erklärer noch vor der Jahrtausendwende geltend machten. Der Gregorianische Choral wird als ein spirituelles Anliegen verstanden, und so wird diese Kunstform in Rom weitergegeben.

Service

Kurs "Cantantibus Organis" im Kloster Santa Cecilia in Rom:
Kloster Santa Cecilia
cantor@benedettinesantacecilia.it
Tel./Fax: 06/45 49 27 39
Piazza Santa Cecilia 22
00153 Rom
Italien

Päpstliches Institut für Kirchenmusik
Via di Torre Rossa 21
00165 Rom
Italien

Conservatorio di Santa Cecilia
Via dei Greci 18
00187 Rom
Italien

Internationale Gesellschaft für Gregorianik

Empfohlen wird die umfangreiche Liste an Publikationen zur Gregorianik von Franz Karl Praßl.

InterviewpartnerInnen:
Franz Praßl
Marina Meuser-Kasimir
Marco Cimagalli, Conservatorio di Santa Cecilia
Suor Maria Dolores Aguirre, Kloster Santa Cecilia, Rom
Nino Albarosa, Kloster Santa Cecilia, Rom
Vincenzo de Gregorio, Päpstliches Institut für Kirchenmusik/PIMS
Wolf Notker, Abt-Primas, Sant'Anselmo Rom

Sendereihe