Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer: "Nichts Schön'res unter der Sonne als unter der Sonne zu sein ... ". Gestaltung: Alexandra Mantler

Vergiß dich. Es soll dein Denken
Nicht weiter reichen als ein Grashüpferhupf.

Diese Aufforderung am Ende des Gedichtes "Sommerfrische" von Joachim Ringelnatz ist mein liebstes Motto für den Sommer: "Vergiß dich." Wann, wenn nicht im Sommer, sollte Zeit sein, sich fallen zu lassen und das Selbstbewusstsein, das immer am Arbeiten ist, einmal auf Urlaub zu schicken. Ich muss dazu nicht unbedingt im Gras liegen wie der Sprecher des Ringelnatz-Gedichtes, aber zumindest den Computer und das Handy abschalten; doch die Natur ist auch für mich der beste Ort, mich selbst einmal loszuwerden. Und das Denken einmal nicht in die Ferne und in die Abstraktion schweifen zu lassen, sondern bei dem zu bleiben, was ich sehe: "Es soll dein Denken / nicht weiter reichen als ein Grashüpferhupf" - ein schönes Wort hat Ringelnatz da erfunden. Und wie zur Bekräftigung seiner Aufforderung ist in diesen Tagen auf dem Balkon meiner Wiener Wohnung, mitten in einem dicht verbauten Gebiet, ein solcher Grashüpfer aufgetaucht und mir auf den Arm gesprungen.

Wenn ich die Denkmaschinerie zurückschraube und mich den Augen überlasse, entsteht manchmal jenes Gefühl, das August Heinrich Hoffmann von Fallersleben in dem Satz gefasst hat: "Die Welt ist mein, ich fühl es wieder." Zwei Jahre vor seinem Tod hat dieser Dichter und Gelehrte des 19. Jahrhunderts das Gedicht "Wie freu ich mich der Sommerwonne!" geschrieben; seine Entstehung ist genau datiert: "27. Januar 1872". Hoffmann von Fallersleben hat also nicht einfach in Worte gefasst, was er sah, sondern sich mitten im tiefsten Winter einen Sommertraum erdichtet. Sein Ende mag ich besonders:

Kein Sehnen zieht mich in die Ferne,
Kein Hoffen lohnet mich mit Schmerz:
Da wo ich bin, da bin ich gerne,
Denn meine Heimat ist mein Herz.

Das ist in der poetischen Sprache des 19. Jahrhunderts gesagt, aber die Erfahrung des Bei-sich-Seins, das Gefühl, endlich wieder einmal sich selbst zu spüren, ist noch immer eines der großen Versprechen des Sommers. Urlaub von allem und eintauchen in die unmittelbare Gegenwart - wann sollte das möglich sein, wenn nicht im Sommer.

Service

Buch, Sommergedichte, ausgewählt von Evelyne Polt-Heinzl und Christine Schmidjell, Verlag Philipp Reclam jun.
Buch, Ingeborg Bachmann, Anrufung des Großen Bären, in: Ingeborg Bachmann, Werke, Hrsg. v. Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster, Erster Band: Gedichte, Hörspiele, Libretti, Übersetzungen, R. Piper Verlag
Buch, Ernst Stadler, Sommer, aus: Der Aufbruch. Gedichte, Verlag Kurt Wolff
Buch, Gottfried Keller, Ich hab in kalten Wintertagen, aus: Gedichte, Band 1, Hrsg. v. Kai Kauffmann, Deutscher Klassiker Verlag

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Antonio Vivaldi
Titel: Konzert für Flöte, Streicher u. B.c. Nr.14 in D-Dur PV 155 op.10 Nr.3
* Cantabile - 2.Satz (00:02:37)
Populartitel: La Gardellino
Solist/Solistin: Jean Pierre Rampal /Flöte
Ausführende: I Solisti Veneti
Leitung: Claudio Scimone
Länge: 02:00 min
Label: CBS M2YK 45623

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