Gedanken für den Tag

Von Michael Bünker, Bischof der evangelisch-lutherischen Kirche in Österreich. "Aus dem Leben eines Erzengels". Gestaltung: Alexandra Mantler

"Als das Kind Kind war,
wusste es nicht, dass es Kind war,
alles war ihm beseelt,
und alle Seelen waren eins."

So ein Ausschnitt aus Peter Handkes "Lied vom Kindsein", das sich wie ein roter Faden durch den wunderbar poetischen Film "Der Himmel über Berlin" des deutschen Regisseurs Wim Wenders zieht. Das Drehbuch haben Handke und Wenders gemeinsam geschrieben und die Geschichte ist ganz schnell erzählt: Die beiden Engel Damiel und Cassiel, gespielt von Bruno Ganz und Otto Sander, streifen durch Berlin, das noch geteilte, das von den Kriegsfolgen gezeichnete Berlin. Sie spazieren gleichsam durch die Köpfe und Herzen der Menschen und lesen - oft wie im Vorbeigehen - deren Gedanken. Fasziniert von den Möglichkeiten der menschlichen Existenz verliebt sich Damiel in die Trapezkünstlerin Marion und beschließt, den Himmel, die himmlische Existenz, hinter sich zu lassen und fortan ganz irdisch, als Mensch unter Menschen zu leben. Und im selben Maß, wie dieses Vorhaben zur Realität wird, wandelt sich der Film vom Schwarzweiß zur vollen Farbigkeit des Menschenlebens.

Warum das "Lied vom Kindsein"? Weil niemand außer den Kindern die beiden Engel sehen kann. Aber das ist nur vordergründig im Film. Dahinter steckt wohl auch die Vorstellung, dass Engel und Kinder ein besonderes Naheverhältnis zueinander haben. Auf der einen Seite scheinen Engel in der fantasiegeladenen Weltsicht der Kinder ohne Probleme vorstellbar. In der Aufklärungszeit hat man generell gemeint, die Vorstellung von Engeln gehört auch in das Kindheitsstadium von Religionen und passt ganz und gar nicht mehr ins aufgeklärte, erwachsene Verständnis von Himmel und Erde, Gott und Welt. Rudolf Bultmann, ein evangelischer Theologe des 20. Jahrhunderts, meinte kurz und bündig: Man kann nicht in der technisch-naturwissenschaftlichen Welt existieren und gleichzeitig an Geister, Engel und Dämonen glauben.

Auf der anderen Seite wurden die Engel selbst zunehmend, vor allem seit der Barockzeit, zu Kindern gemacht, gleichsam infantilisiert. Auf vielen Fresken und Gemälden erscheint der Himmel dann wie ein überdimensionaler Kindergarten und ich erinnere mich noch gut an die massenhafte Verbreitung der beiden Kinderengel von Raffaels Sixtinischer Madonna auf Schultaschen, Postern und allen möglichen Alltagsgegenständen. Das waren die Posterboys der Renaissance! Da werden die Engel schnell zu trivialen Kitschfiguren. Es beschleicht mich ein gewisses Unbehagen, wenn ich die rasante Zunahme der gartenzwergartigen Gipsengerln auf den Friedhöfen sehe. Ist das nicht eher eine Verharmlosung in religiöser Gestalt als ein wirklicher Trost, als eine starke Hoffnung auch im Angesicht des Todes? Und was soll ich von Engeln als Schlüsselanhänger halten, die zugleich als Chip für den Einkaufswagen dienen?

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Jürgen Knieper
Album: Wim Wenders' Roadmusic Part 1 & 2
Titel: Der alte Mercedes /aus dem Film "Der Himmel über Berlin"
Orchester: Unbekannt
Leitung: Jürgen Knieper
Länge: 02:00 min
Label: Milan CDCH372

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