Gedanken für den Tag

Von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer. "Warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus" - Zum 200. Geburtstag von Georg Büchner. Gestaltung: Alexandra Mantler

"Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht." Das sagt Woyzeck in Georg Büchners gleichnamigem Drama. Ja, diese Büchner-Sätze: Sie setzen einem zu, lassen einen nicht los und melden sich plötzlich wieder, auch wenn man sich zwischenzeitlich mit gemütlicheren Sätzen beruhigt hat. Neben den Büchner-Sätzen wirken so manche Autoren, die zum Bildungskanon gehören, ziemlich behäbig, bestenfalls gemütlich, eher aber nebensächlich oder leicht angestaubt.

In den skeptischen desillusionierenden Sätzen ist Büchner ganz groß. Etwa wenn Danton gleich zu Beginn des Stückes "Dantons Tod" sagt: "Wir wissen wenig voneinander. Wir sind Dickhäuter, wir strecken die Hände nacheinander aus, aber es ist vergebliche Mühe, wir reiben nur das grobe Leder aneinander ab - wir sind sehr einsam." Und wenig später setzt Danton fort. "Einander kennen? Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren." Georg Büchner war Anatom, und als solcher scheint er hier auf die menschlichen Beziehungen zu blicken. Und er konstatiert die schmerzliche Erfahrung, dass einem auch der liebste Mensch oft fremd ist, dass man auch ihm nicht ins Gehirn schauen kann. Und dass man die Gefühle eines anderen Menschen immer nur aus seinen Äußerungen erschließen, aber nicht selbst spüren kann.

Viele schöne Theorien über den Menschen zerschellen an Büchners Sätzen. Etwa an den folgenden aus "Dantons Tod": "Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet? Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst." Paulus hat sich übrigens im Römerbrief ganz ähnlich gewundert: Warum tue ich nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will?

Dass der Mensch ein Rätsel ist - oder ein Geheimnis: Das kann man bei Georg Büchner jedenfalls lernen. Und dass die skeptischen Fragen und das sinnliche Lebenskonzept Dantons humaner sind als der Tugendterror des überzeugten Revolutionärs Robespierre.

Service

Buch, Georg Büchner, "Sämtliche Werke und Briefe", Reclam Verlag
Buch, Georg Büchner, "Werke und Briefe", Verlag Lambert Schneider
Buch, Hermann Kurzke, "Georg Büchner. Geschichte eines Genies", Verlag C. H. Beck
Buch, Jan-Christoph Hauschild, "Georg Büchner. Verschwörung für die Gleichheit", Verlag Hoffmann & Campe
Buch, Michael Hofmann und Julian Kanning, "Georg Büchner. Epoche - Werk - Wirkung", Verlag C. H. Beck
Buch, Jan-Christoph Hauschild, "Georg Büchners Frauen", Deutscher Taschenbuchverlag
Buch, Barbara Neymeyr (Hg.), "Georg Büchner", Neue Wege der Forschung, Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Buch, Christian Milz, "Georg Büchner. Dichter, Spötter, Rätselsteller", Passagen Verlag

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Joseph Haydn/1732 - 1809
Titel: Konzert für Violoncello und Orchester in D-Dur, op.101 Hob.VIIb/2
* Rondo - 3.Satz (00:04:50)
Cellokonzert
Solist/Solistin: Esther Nyffenegger /Violoncello
Orchester: Nürnberger Symphoniker
Leitung: Hermann Dechant
Länge: 02:00 min
Label: Colosseum 349003

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