Zwischenruf

von Superintendent Olivier Dantine (Innsbruck)

Seit etwas mehr als einem Jahr wohne ich mit meiner Familie am Rand des Innsbrucker Stadtteils Saggen. Ich gehe gerne durch die begrünten Straßen, die von wunderschönen Gründerzeitvillen gesäumt sind. Gerade jetzt, im Herbst, die Bäume schillern in allen Farben, genauso im Hintergrund die Berge rund um Innsbruck. Es ist ruhig, geradezu friedlich in diesen Straßen.

Es ist eine Idylle, die genau vor 75 Jahren zerstört wurde. In diesem Stadtteil gab es einige Villen, deren Besitzer Jüdinnen und Juden waren. Für sie, wie für viele andere Juden im damaligen Deutschen Reich war die Nacht auf den 10. November 1938 die bis dahin schlimmste Nacht. Die Verfolgung der Juden fand in den Novemberpogromen ihren ersten Höhepunkt.

Die Nazi-Propaganda machte aus diesem Pogrom einen spontanen Ausbruch des Volkszorns als Reaktion auf ein Attentat auf einen Pariser Botschaftsangehörigen. Heute wissen wir, dass diese Pogrome von den Nationalsozialisten bewusst gesteuert wurden.
In Innsbruck war diese Pogromnacht im Verhältnis zur Größe der jüdischen Gemeinde besonders schrecklich. Drei Männer - Wilhelm Bauer, Richard Berger und Richard Graubart - wurden unmittelbar in dieser Nacht ermordet, ein vierter, Josef Adler starb an den Folgen seiner Verletzungen. Viele andere wurden überfallen und verletzt, 18 Männer wurden festgenommen, Geschäfte wurden geplündert, sowie viele Wohnungen und nicht zuletzt auch die Innsbrucker Synagoge verwüstet. Auch in diesem so schönen Stadtteil Saggen haben sich diese Verbrechen ereignet.

Es ist bekannt, dass es Protest von offizieller kirchlicher Seite nicht oder nur kaum gab. Das gilt auch für die Evangelische Kirche. Nicht nur das, es haben viele Mitglieder der Evangelischen Kirche offen mit der nationalsozialistischen Ideologie sympathisiert, und den Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland bejubelt. Auch Verantwortliche der Evangelischen Gemeinde in Innsbruck haben sich in dieser Hinsicht besonders hervorgetan.
Dafür gibt es vielfältige Gründe, die manche der damaligen Hoffnungen und Begeisterungen erklären. Daran, dass die Judenfeindschaft in der Evangelischen Kirche verbreitet war, ändern diese Erklärungen nichts. Es wäre zwar unzulässig, eine direkte Linie zwischen Martin Luther und den Novemberpogromen zu ziehen, unbestritten aber ist, dass es seit den judenfeindlichen Schriften Luthers diese antijüdische Tradition in meiner Kirche gab.
Daher muss ich von einer Mitschuld von Kirche und Theologie an den Ereignissen von vor 75 Jahren sprechen. Und so begehen wir als Vertreter der Evangelischen Kirche diesen Gedenktag mit Scham. Es kann sich jedoch nicht einfach nur darum drehen, in Sack und Asche zu gehen. Evangelische Kirche und Theologie sollen sich ihrer besonderen Verantwortung aus ihrer Geschichte bewusst sein.

Seit einigen Jahrzehnten geschieht auch eine Neuorientierung. Es geht dabei zunächst um eine Bibellektüre, die sich von traditionell judenfeindlichen Auslegungen lossagt, wie etwa die Bezeichnung des Judentums als gesetzliche Religion, die tendenzielle Gleichsetzung von Pharisäern mit Heuchlern oder die noch immer nicht ganz verschwundene Ansicht, "die" Juden wären schuld am Tod Jesu.

Weiters versteht sich Kirche immer stärker von ihrer religiösen Wurzel her. Ich kann die Botschaft Jesu und der Apostel nur dann voll und ganz verstehen, wenn ich mitbedenke, dass es eben Juden waren, die mir im Neuen Testament als Lehrer begegnen.
Und schließlich suchen evangelische Christinnen und Christen das Gespräch mit den jüdischen Gemeinden. Wir unterstützen das Gedenken an die ermordeten und vertriebenen Jüdinnen und Juden, und wir freuen uns daran, dass es in unserem Land wieder jüdisches Leben gibt.

Gerade an einem Tag wie heute wird deutlich: Versöhnung geht nicht ohne Erinnerung. Aber darin liegt auch ein Grund zur Hoffnung: Ein Neubeginn ist möglich. Wir dürfen seit einiger Zeit ein vertrauensvolles Miteinander zwischen Juden und Christen erleben. Dafür bin ich sehr dankbar!

Sendereihe

Playlist

Urheber/Urheberin: O Sher
Titel: The Sounds Of Safed
Ausführender/Ausführende: Giora Feidmann
Länge: 00:25 min
Label: LC 0972 CD883 674-907 Verlag Pläne Cut 3

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