Gedanken für den Tag

Von Mirja Kutzer, Germanistin und katholische Theologin. "November-Liebe". Gestaltung: Alexandra Mantler

Auf den ersten Blick haben die Helden unserer Liebesgeschichten heute und die christlichen Mystiker der Vergangenheit wenig gemeinsam. Der Mystiker lebt in aller Regel asketisch. Er ist enthaltsam, vor allem sexuell. Die Erfüllung sucht er jenseits dieser Welt, in Gott. Dagegen richtet der zeitgenössisch Liebende seine Sehnsucht auf einen anderen Menschen. Sein Verlangen ist irdisch und sehr wohl auch körperlich. Immerhin - beide sind Liebende. Und so begegnen in den Schriften des Mystikers mitunter die gleichen Worte wie im Munde dessen, der über beide Ohren in einen anderen Menschen verliebt ist.

Der französische Literaturkritiker und Philosoph Roland Barthes hat sich in seinem meistgelesenen Werk, den "Fragmenten einer Sprache der Liebe", auf eine Spurensuche begeben. Ihn interessieren die sprachlichen Figuren, in denen Menschen heute ihrer Liebe Ausdruck verleihen. Dies ist gleichzeitig eine Reise in die Vergangenheit. Über Jahrhunderte hinweg hat sich ein "Thesaurus", ein Sprachschatz gebildet, der noch heute die Sehnsüchte und das Begehren der Liebenden prägt.

Bruchlos begegnen in diesen Fragmenten die Stimmen von Mystikern. Mit Jakob Böhme begibt sich der Liebende auf die vergebliche Suche nach einer Sprache, die sein Empfinden auszudrücken vermag. Mit Jan van Ruysbroeck wird er von der Überfülle der Liebe überschwemmt. Mit Johannes vom Kreuz durchleidet er die dunkle Nacht, in der sich das geliebte Wesen aus unbegreiflichen Gründen zurückzuziehen scheint.

Die Stimmen sind austauschbar. Es wechselt allein der Adressat. Egal ob in der Gottesliebe oder in der Liebe zu einem anderen Menschen - die Situation, in der sich das liebende Ich befindet, scheint vergleichbar. In ihr setzt sich das liebende Ich dem Geliebten aus, droht sich zu verlieren und weiß sich doch auf dem einzig möglichen Weg, sich selbst zu finden. Eben dies ist, so schreibt Roland Barthes, "reine Religion".

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Johann Hermann Schein/1586 - 1630
Titel: Banchetto Musicale - Nr.16 Suite 3 a 5 in a
* Corente - 3.Satz (00:01:48)
Ausführende: Hesperion XX
Leitung: Jordi Savall
Ausführender/Ausführende: Jordi SAVALL /(laut MGG 2005)/geb.1.8.1941 Igualada < bei Barcelona >
Länge: 02:00 min
Label: EMI 7492242

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