Gedanken für den Tag

Von Vladimir Vertlib, Schriftsteller. "Der Blick zurück, um nach vorne schauen zu können". Gestaltung: Alexandra Mantler

Kollektive Erinnerung nimmt manchmal groteske Formen an, insbesondere dann, wenn sie als vermeintlich historischer Vergleich mehr über eine Person offenbart, als dieser lieb ist. Was folgende Geschichte veranschaulicht:

Vor einigen Jahren hielt ich an einem deutschen Gymnasium eine Lesung ab. Noch mehr als für meine Texte interessierten sich die Schülerinnen und Schüler für meine Biographie. Ich erzählte von der Odyssee, die ich als Kind und Jugendlicher durchmachen musste, erwähnte alle Orte, an denen ich gelebt hatte, und sprach darüber, welche Auswirkungen die Emigration auf mein Leben hatte. Nach der Schulstunde meinte der stellvertretende Direktor, ein Herr um die sechzig, er bereue es nicht, die Lesung und das Gespräch miterlebt zu haben: "Sie haben eine so interessante Biographie!", meinte er. "Was kann ich dem schon mit meiner behüteten Kindheit in Nachkriegsdeutschland entgegensetzen. Aber ich habe einen jüdischen Freund, der in den Dreißigerjahren nach Shanghai flüchten musste. Seine Erzählungen sind ähnlich spannend wie Ihre."

Zuerst wollte ich widersprechen. Meine Kindheit und Jugend hatte ich keineswegs als "spannend" in Erinnerung. Das Leben eines Emigranten ist neben allen Spannungszuständen, auf die er gerne verzichten würde, in erster Linie trostlos. Aber ich wollte nicht wiederholen, was ich während der Schulstunde schon ausführlich erläutert hatte. Heute bereue ich, dass ich damals geschwiegen habe. Widerspruch ist oft eine Frage des Prinzips. Den Vergleich meiner Biographie mit der eines Verfolgten und Vertriebenen der NS-Diktatur hätte ich auf jeden Fall zurückweisen müssen. Während der Emigration ist mein Leben niemals bedroht gewesen. Dennoch hätte ich meine Erfahrungen gerne gegen jene einer so genannten "behüteten Kindheit" eingetauscht.

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Pjotr Iljitsch Tschaikowski/1840-1893
Album: JOURNEYS
Titel: Souvenir de Florenz / Streichsextett in d-Moll für 2 Violinen, 2 Violas und 2 Cellos
* Allegretto moderato
Ausführende: Emerson String Quartet
Ausführender/Ausführende: Philip Setzer /violine
Ausführender/Ausführende: Eugene Drucker /violine
Ausführender/Ausführende: Lawrence Dutton /viola
Ausführender/Ausführende: David Finckel /cello
Solist/Solistin: Paul Neubauer /viola
Solist/Solistin: Colin Carr /cello
Länge: 02:00 min
Label: Sony Classical 88725470602

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