Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer. "Ich fahr durch Schnee und weiße Nacht". Gestaltung: Alexandra Mantler

Ich hân mîn lêhen, al die werlt, ich hân mîn lêhen.
Nû entfürhte ich niht den hornunc an die zêhen

An diese mittelhochdeutschen Zeilen von Walther von der Vogelweide, dem großen Dichter des Mittelalters, erinnere ich mich seit Studientagen. In heutigem Deutsch würden sie etwa so lauten:

Ich habe mein Lehen, alle Welt, ich habe mein Lehen.
Jetzt fürchte ich nicht den Februar an den Zehen.

Walther von der Vogelweide hatte von Kaiser Friedrich II. ein Lehen, also ein Grundstück oder vielleicht auch ein Geldgeschenk, bekommen und musste den Winter nicht mehr fürchten. Wenn man Angst vor dem Winter haben muss, sieht die Welt anders aus. Seit meine Zentralheizung läuft, auch wenn das Bankkonto überzogen ist, habe ich das vergessen; aber als Kind bin ich noch mit meiner Mutter in den Wald gegangen, um auf dem Boden liegende Äste und Zweige für den Winter zu sammeln. Aber wenigstens sind unsere Zehen nicht erfroren, wie es anderen passiert ist, die im Freien arbeiten mussten oder schlechte Schuhe hatten.

Heute ist das Frieren und Erfrieren in Europa keineswegs Vergangenheit, nur die Wohlstandsländer nehmen es nicht mehr wahr. Vor fünf Jahren herrschte ein strenger Winter mit Temperaturen unter minus zwanzig Grad. In der ersten Woche des Jahres 2009 sind in Ungarn zehn Menschen in der eigenen Wohnung erfroren; man hatte ihnen den Hahn abgedreht, weil sie ihre Heizkosten nicht mehr bezahlen konnten. In Rumänien erfroren in den ersten Jännertagen 2009 43 Menschen, darunter ein drei Monate altes Baby.

Mittlerweile können sich auch in Griechenland viele Menschen die Heizung nicht mehr leisten. Anfang Dezember 2013 ist in Thessaloniki ein dreizehnjähriges Mädchen im Schlaf erstickt, da die Mutter kein Geld für Strom und Heizung hatte und versuchte, die Wohnung mit einem offenen Holzofen zu wärmen.

In Europa spricht man noch immer gerne von gemeinsamen Werten. Dass alle Menschen ihre Wohnung heizen und den Winter überleben können, gehört in den postsozialen Zeiten, in denen wir leben, nicht mehr dazu. Wie lange wird es noch dauern und was muss geschehen, bis alle Menschen, wie einst Walther von der Vogelweide, den Winter nicht mehr fürchten müssen?

Service

Buch, Horst Brunner (Hg.), "Walther von der Vogelweide. Gedichte", Reclam Verlag

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Wolfgang Amadeus Mozart/1756 - 1791
Album: WINTER - KLASSISCHE MUSIK FÜR ALLE JAHRESZEITEN
Titel: Adagio - 2.Satz aus dem Konzert für Klavier und Orchester Nr.23 in A-Dur KV 488
Klavierkonzert
Solist/Solistin: John O'Conor /Klavier
Orchester: Scottish Chamber Orchestra
Leitung: Sir Charles Mackerras
Länge: 02:00 min
Label: Telarc 80330

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