Radiokolleg - Das effiziente Ich

Von guten Vorsätzen und digitaler Selbstkontrolle
(2). Gestaltung: Marlene Nowotny

9233 Schritte gemacht; zweieinhalb Liter Wasser getrunken; 1820 Kalorien zu sich genommen; der Körperfettanteil liegt bei 14,8 Prozent, das Gewicht bei 62 Kilogramm; 6 Stunden geschlafen, 10 Stunden gearbeitet - 8 davon vor dem Computer; 23 Seiten aus einem Buch gelesen; 42 Euro ausgegeben; Blutdruck gemessen, Sauerstoffsättigung gemessen, Blutzucker gemessen.
So in etwa sieht das Tagesprotokoll von Anhänger/innen der "Quantified Self"- Bewegung aus. Von Menschen, die ihren Alltag detailliert dokumentieren, mit dem erklärten Ziel sich selbst - ihren Körper und ihre geistigen Kapazitäten - zu optimieren.

Das Phänomen ist nicht neu: Bereits Goethe protokollierte seine täglichen Aktivitäten, von der Anzahl seiner geschriebenen Seiten bis hin zu seinen Sozialkontakten, um den Überblick über seine Produktivität nicht zu verlieren. Doch die technischen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts haben die Idee der Selbstoptimierung auf eine neue Stufe gehoben. Dank Laptops und Smartphones können die Daten aus der Selbstvermessung überall und zu jedem Zeitpunkt erfasst werden. Die Ergebnisse können im Rahmen von Facebook oder Internetforen mit anderen geteilt und besprochen werden und laufend in Diagramme über die eigene körperliche und geistige Performance einfließen. Sport und gesündere Ernährung, weniger Unterhaltung und mehr Hochkultur - gute Vorsätze am Beginn des neuen Jahres scheinen nicht länger zu reichen. Die Fortschritte zum "effizienten Ich" wollen gezählt, gemessen und dokumentiert werden.

Die zugrunde liegende Ideologie scheint offensichtlich: Mache das Beste aus deinem Leben, deinem Körper und deinem Gehirn. Während die einen dieses Prinzip als übertriebene Leistungsideologie ablehnen und eine Entsolidarisierung der Gesellschaft befürchten, begreifen die Anhänger/innen der "Quantified Self"-Bewegung diese Selbstoptimierung als Chance auf persönliche Autonomie.

Das Radiokolleg macht sich in dieser Woche auf die Suche nach den historischen Wurzeln der Selbstoptimierung, zeigt die aktuellen technischen Möglichkeiten der Selbstvermessung auf und fragt nach den sozialen Chancen und Risiken dieser selbstauferlegten Überwachung.

Service

Literaturliste:
Stefan Selke: Lifelogging. Warum wir unser Leben nicht der Technik überlassen sollten. Econ Verlag, erscheint im Mai 2014
Marlene Streeruwitz: Ware Mensch: Karl Kraus Vorlesungen zur Kulturkritik, Band 6, Bibliothek der Provinz, 2013
Michael Girkinger: Einmal Glück und Erfolg, bitte! Über das Glück und seine Vermarktung in der Persönlichkeitsbildung. Eine Untersuchung zur Kultur der Selbstoptimierung, Tectum Verlag, 2012
Robert Pfaller: Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie. Fischer Verlag, 2011
Ariane Greiner und Christian Grasse: Mein digitales Ich: Wie die Vermessung des Selbst unser Leben verändert und was wir darüber wissen müssen, Metrolit Verlag, 2013
Michel Foucault: Über den Willen zum Wissen: Vorlesungen am Collège de France 1970/71, Suhrkamp Verlag, 2012
Michel Foucault: Das Subjekt und die Macht. In: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Beltz Athenäum Verlag, 1994
Eva Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus: Adorno-Vorlesungen 2004, Suhrkamp Verlag. 2006
Eva Illouz: Die Errettung der modernen Seele: Therapien, Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe, Suhrkamp Verlag. 2009
Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Suhrkamp Verlag. 2007

Link:
Qantified Self - self knowledge through numbers

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