Radiokolleg - Von der Weltflucht zur Gegenwelterfindung

Eskapismus als Lebensprinzip (4). Gestaltung: Thomas Edlinger

Am Anfang steht die Einsicht, nicht mehr mitmachen zu wollen. "Ich möchte lieber nicht", sagt Hermann Melvilles rätselhafte Literaturschöpfung Bartleby in seinem Büro. Bartleby gibt in Melvilles Kurzgeschichte für seine radikale Verweigerung keinen Grund an. Er wurde gerade deshalb zum Helden einer leisen Rebellion. Heute schließen sich junge Weltverneiner/innen in Japan, so genannte Hikikomoris, oft jahrelang im Kinderzimmer ein. Der moderne Eremit erlebt seine Renaissance in der Figur des Nerds und taucht in virtuellen Welten oder in den Weiten der vernetzten Popkultur ab. Dort bilden sich lose Communities, die auf die Ausstiegsfantasien aus bedrückenden Sachzwängen mit der Erfindung von Gegen- und Traumwelten antworten.

Doch in der Regel hat die "Flucht nach vorn" (Sigmund Freud) keinen guten Ruf. Der Eskapismus, so heißt es, baut Luftschlösser und interessiert sich weder für die Veränderung noch für die Kritik der Gesellschaft.

Zwar wird zugleich überall kritisiert, aber deshalb wird kaum etwas wirklich besser. Im Gegenteil. Die Krise ist Dauerthema - und damit floriert auch das Bedürfnis nach der Verdrängung der schlechten Wirklichkeit. Es zeigt sich in der Konjunktur einer eskapistischen Kunst, die in Form surrealistischer Outsider-Art die letzte Biennale in Venedig beherrschte, und es wird in den Traumfabriken der Kultur- und Medienindustrie routiniert verwaltet. Casting-Shows befeuern den Narzissmus, Katzenvideos am Computer unterbrechen die Langeweile, Politainment ersetzt das in der "Welt ohne Alternativen" abhanden gekommene Engagement, Drogen halten uns fit und zugleich benebelt.

So erscheint es gar nicht so verwunderlich, wenn individuelle Fluchtwege aus einer utopielosen und angstbesetzten Gegenwart gesucht werden. Banker/innen verwandeln sich in Biobauern und -bäuerinnen, Musiker/innen erforschen Trancezustände, Computerfreaks basteln an Verschlüsselungsprogrammen und Politaktivist/innen träumen von einer Welt jenseits der bestehenden Ordnung.

Service

Monika Ankele: Alltag und Aneignung in Psychiatrien um 1900. Selbstzeugnisse von Frauen aus der Sammlung Prinzhorn. Böhlau, Wien 2009
Italo Calvino: Der Baron auf den Bäumen. dtv, München 2003
Hans Christian Dany: Morgen werden ich Idiot. Kybernetik und Kontrollgesellschaft. Edition Nautilus, Hamburg 2013
Milena Michiko Flasar: Ich nannte ihn Kravatte. Klaus Wagenbach, Berlin 2012
Robert Jelinek: Offshore Census - Citizens of the State of Sabotage. Springer, Wien/New York 2011
Klaus Nüchtern: Früher waren die Friseure frecher. Metro Verlag, Wien 2013
Thomas Meinecke: Analog (mit Illustrationen von Michaela Meliàn). Verbrecher Verlag, Berlin 2013
Jeannie Moser: Psychotropen. Eine LSD-Biographie. Konstanz University Press, Konstanz 2013
Robert Pfaller: Zweite Welten. Und andere Lebenselixiere. S.Fischer, Frankfurt am Main 2012
Vrääth Öhner und Georg Tscholl: Margareta Heinrich: Taschenkino 1. verlag filmarchiv austria, Wien 2011
Angela Stief: Kunst und Obsession. (Hrsg). Kunstforum International, Köln in Vorbereitung
Axel Stockburger: The Rendered Arena: Modalities of Space in Video and Computer Games. VDM Verlag, Saarbrücken 2009
Ernst Strouhal: Passagen des Spiels I - IV. ( Hrsg. mit Mathias Fuchs und Ulrich Schädler.). Springer, Wien/New York 2010-2012
Katherina Zakravsky: Omega Surfing. Posthumane Perspektiven in Biopolitik, Science Fiction und Pornographie. Böhlasu, Wien 2012
Paul Poet: Empire Me. Navigator Film, Wien 2011

Thomas Draschan

Sendereihe