Zeit-Ton

Tagträume und Erinnerungen. Gestaltung: Lothar Knessl

Nicht immer sind in Tagebüchern chronologische Ereignisse aus dem Leben des Schreibers historisch getreu festgehalten. Zuweilen sind es nur Bruchstücke, Momente. Bekanntlich gibt es ja verschiedene historische Wahrheiten, oder es steht textlich nur das drin, was die Autorin, den Autor ins rechte Licht rückt. Die Situation ist grundlegend anders, wenn das Tagebuch nicht aus Worten sich fügt, sondern aus Musik. Sie kann Ereignisse buchstäblich nicht wörtlich vermitteln, sondern diese allenfalls in akustische Bilder bannen. Allein dadurch gewinnt das aus Musik geschaffene Tagebuch die Dimension gradueller Mehrdeutigkeit.

Friedrich Cerha komponierte 2011 elf Skizzen für großes Orchester. Er nennt sie "Tagebuch", uraufgeführt am 5. Februar 2014 in Frankfurt am Main, nur zwei Tage vor der Uraufführung seiner "Drei Orchesterstücke" in Köln, die mittlerweile vom ORF ausgestrahlt wurden. Der vielgestaltige Mittelsatz dieser drei Stücke, irritierend "Intermezzo" genannt, umfangreicher als die beiden Randsätze, ist der musikalische Nährboden für das - autobiographische? - Sich-Erinnern in den elf Skizzen. Cerhas langes Leben.
Keine lang zurück reichenden Erinnerungen, sondern solche von Erlebnissen der Gegenwart, Erlebnissen, die in die Gegenwart hineinwirken, prägen unmissverständlich die Tagebuch-Musik Luigi Nonos: Diario polacco, hart konturierte Aufzeichnungen, Reflexionen über Konzentrationslager und über ein sozial neu erwachendes Polen, mit einem bitteren Nachklang von 1981, Reaktion auf das von General Jaruzelski verhängte Kriegsrecht: "wenn sie am Sterben sind...".

Rund tausend Jahre zurückliegende Tagebucheintragungen: die ganz andere Welt im Leben einer japanischen Hofdame, fragmentarisch festgehalten von einer anonymen Schreiberin. Poetische Tagträume im Schleierlicht verblassender Erinnerung. Überquerst du die Brücke, erwartet dich Kummer; überquerst du sie nicht, bleibst du von Kummer umgeben. Peter Eötvös hat Teile daraus als Klangtheater in die musikalische Gegenwart gerückt. Die soghafte Atmosphäre der Fiktion, abseits historischer Realität.

Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Leos Janácek
Titel: The diary of one who disappeared (Tagebuch eines Verschollenen)
Solist/Solistin: Nicolai Gedda/Tenor
Solist/Solistin: Vera Soukupová/Alt
Solist/Solistin: Josef Pálenicek/Klavier
Länge: 04:02 min
Label: CD pcm (Supraphon) C37-7541

Komponist/Komponistin: Friedrich Cerha
Titel: Tagebuch (Ausschnitte)
Orchester: hr Sinfonieorchester Frankfurt
Leitung: Andrés Orzco-Estrada
Länge: 13:25 min
Label: UE

Komponist/Komponistin: Luigi Nono
Titel: "diario polacco '58", Komposition für Orchester Nr. 2
Orchester: Radio Symphonie-Orchester Frankfurt
Leitung: Bruno Maderna
Länge: 04:20 min
Label: EBU

Komponist/Komponistin: Luigi Nono
Textdichter/Textdichterin, Textquelle: Czeslaw Milosz
Textdichter/Textdichterin, Textquelle: Endre Ady
Textdichter/Textdichterin, Textquelle: Alexander Blok
Textdichter/Textdichterin, Textquelle: Boris Pasternak
Textdichter/Textdichterin, Textquelle: Welemir Chlebnikow
Bearbeiter/Bearbeiterin: Massimo Cacciari
Titel: Quando stanno morendo. Diario polacco Nr.2 für vier Frauenstimmen, Baßflöte, Violoncelli und Live-Elektronik
* Mosca - chi sei?
Solist/Solistin: Susanne Otto /Alt
Ausführende: Roberto Fabbriciani /Baßflöte
Solist/Solistin: Christine Theuss /Violoncelli
Ausführende: Experimentalstudio der Heinrich Strobel Stiftung des Südwestfunks
Leitung: André Richard
Länge: 09:05 min
Label: Ricordi LEIHMATERIAL!

Komponist/Komponistin: Peter Eötvös
Titel: As i Crossed A Bridge Of Dreams
Solist/Solistin: Elizabeth Laurence/Rezitation
Solist/Solistin: Mike Svoboda/Alt-Posaune
Solist/Solistin: Gerard Buquet/Kontrabassposaune und Sousaphon
Orchester: UMZE Kammer Ensemble
Leitung: Gergely Vajda
Länge: 11:20 min
Label: BMC 07503

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