Gedanken für den Tag

von Guido Tartarotti, Theaterkritiker, Kolumnist bei der Tageszeitung "Kurier" und Kabarettist. "Gottes kleiner Bruder" - Zum 450. Geburtstag von William Shakespeare. Gestaltung: Alexandra Mantler

Erinnerungen: Das Wohnzimmerregal. Darauf lagen oder standen: Holztennisschläger; bunte Flaschen, aus denen es herausstank; eine Steinschüssel mit Silbermünzen darin, "für schlechte Zeiten"; eine Schachtel mit Matador-Bauteilen, mit denen man nur unter Aufsicht des Vaters spielen durfte, was keinen Spaß machte; ein Schuhkarton gefüllt mit Fotos, wenn uns fad ist, kleben wir die ein, hieß es; Schallplatten von den Rolling Stones, man durfte sie nur anschauen, nicht abspielen; sowie hunderte von Büchern. Bücher von Goethe und Schiller, Bücher mit Fotos von Elefanten und Berggipfeln, Bücher über die Techniken des alpinen Klettersports und über Gebrauchshundeerziehung, ich weiß noch, dass ich mich wunderte, warum jemand gebrauchte Hunde erziehen wolle. Und ein Buch, das zu groß und schwer war, um es aufzuheben. Ein Mann mit komischem Bart war darauf abgebildet, der Titel lautete "Shakespeare: alle Stücke" oder so ähnlich.

Nach und nach eroberte ich mir das ganze Regal. Als erstes lernte ich, auf dem Tennisschläger Gitarre zu spielen und mir dabei vorzustellen, wie die Platten der Rolling Stones klingen. Dass der Inhalt der bunten Flaschen dabei behilflich sein kann, lernte ich erst viel später. Dann versuchte ich, mit dem Matador die Fritz-Wotruba-Kirche nachzubauen und schuf dabei aus Versehen eine kubistische Plastik, die aussah wie Bruno Kreisky beim Wasserskifahren. Ich fand das Spielen mit dem Matador auch ohne väterliche Aufsicht fad, aber nicht fad genug, um die Fotos aus dem Schuhkarton einzukleben. Die Schüssel mit den Silbermünzen leerte sich im Lauf der Jahre wie von selbst, offenbar hatte es ständig schlechte Zeiten gegeben, dabei waren sie mir gar nicht aufgefallen.

Irgendwann kam dann der Tag, an dem ich groß und stark genug war, um das Buch mit den Shakespeare-Stücken heben zu können. Ich war etwa zehn Jahre alt und schlug es auf, irgendwo, und begann zu lesen. Und in diesem Moment schuf Gott Himmel und Erde.

Service

Guido Tartarotti

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Anonym
Album: In the Streets and Theatres of London - Straßengesänge und Theatermusik aus Elisabethanischer Zeit
Titel: Mother Watkins Ale
Ausführende: Musicians of Swanne Alley
Länge: 02:00 min
Label: Virgin VC 7907892

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