Zwischenruf

von Prof. Susanne Heine (Wien)

Wer ist schuld? Niemand

Krisen überall, im eigenen Land und in der Welt. Es geht um Geld oder Land, Banken oder Regierungen. Stärke zeigen, das Gesicht wahren, Verurteilungen und Sanktionen müssen her - für die anderen. Im eigenen Haus ist ja alles in Ordnung, und wenn nicht, sollte das am besten niemand wissen. Wer also ist an der ganzen Misere schuld? Die anderen, und wenn nicht die anderen, dann niemand.

Schuld ist ein Thema - offene und verborgene, offen gelegte oder vertuschte, bei Völkern, Gruppen oder Einzelnen. Schuld ist daher nicht zufällig auch ein großes Thema der Religionen. Aber da wird nicht gefragt: Wer ist schuld? Sondern gesagt: Schau auf dich! Eine Aufforderung, sich selbst im Spiegel zu betrachten. Dann aber sind Ausreden genug bei der Hand: Ich hab's ja nicht so gemeint. Warum siehst du denn das so krass? Ich war im Zugzwang, alle machen das so. Es gibt noch viel Schlimmeres. Dann kommt die Aufrechnung: Du hast damals, . und damit hat alles angefangen. Schon in der Bibel redet sich Adam heraus: "Die Frau, die du mir zugesellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben. Da habe ich gegessen" (Gen 3). Ich bin nicht schuld. Die erste Ausrede, die Geschichte gemacht hat und zu einer festgeschriebenen Lehre wurde, die dann jederzeit zur kollektiven Entlastung dienen konnte.

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde geboren und mit Vernunft und Gewissen begabt, so lautet der Artikel 1 der Erklärung der Menschenrechte von 1948. Es lässt sich darüber streiten, woher diese Idee kommt, von Gott, aus der Natur oder aus den Köpfen der Menschen. Jedenfalls würde wohl niemand von sich sagen, er sei würdelos. Es sei denn als Ausdruck der Einsicht, sich würdelos verhalten und Dinge getan zu haben, die der eigenen Würde widersprechen. Und genau das steht hinter der religiösen Rede von Schuld: Schuld zu vertuschen und sich selbst in Ausreden gefangen zu setzen, beschädigt die Würde. Schuld einzugestehen, stellt die Würde wieder her und befreit.

Nun versuche ich, mir vorzustellen, was das für das gesellschaftliche Leben und das Weltgeschehen bedeuten würde. Wenn jemand unrechte Bereicherung oder folgenschwere Machtspiele in aller Öffentlichkeit eingestehen würde? Hätte so jemand dann seine Würde wieder erlangt? Wäre er befreit? Oder würde die Öffentlichkeit nicht eher zum Halali blasen, ihn zum Abschuss frei geben und auf seiner Würde herumtrampeln? Denn seit in einer säkularen Welt das Gericht Gottes abgeschafft wurde, das noch Barmherzigkeit und Vergebung kannte, halten die Menschen untereinander Gericht, und zwar gnadenlos. Die Welt ist zum letzten Gericht geworden, zu einem Tribunal erbarmungsloser Urteile von Menschen über Menschen. So die Diagnose des durchaus religionskritischen Philosophen Odo Marquart.

Damit ist nichts gegen eine Rechtsordnung und Gerichte gesagt, die notwendig sind, damit das Chaos nicht ausbricht. Die Menschen sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen, heißt es weiter im Artikel 1 der Erklärung der Menschenrechte. Und es stünde dort nicht das Wort "sollen" als Imperativ, wäre die Menschheit geschwisterlich einig. Da dem aber nicht so ist, braucht es Konsequenzen für Vergehen. Eine Schuld einzugestehen und die politischen oder auch strafrechtlichen Folgen zu tragen, gehört zur menschlichen Würde. Und das wird in der Öffentlichkeit schon auch anerkannt. Daher wünsche ich mir, dass sich das mehr herumspricht.

Hingegen: Selbstgerechte Haltungen und daraus folgende Stimmungsmache können die Atmosphäre vergiften und Brandherde legen, sind aber nicht judizierbar. Hatte man sich vor Zeiten vor dem Feuer der Hölle gefürchtet, das immerhin nicht zu Lebzeiten stattfindet, hat inzwischen die Angst vor dem Feuer um sich gegriffen, das die Menschheit an allen Ecken und Enden anzündet. Wer also ist an der gnanzen Misere schuld? Die anderen, und wenn nicht die anderen, dann - niemand. Wer fürchtet sich vor dem schwarzen Mann? Das spielen die Kinder und rufen: Niemand! Wenn er aber kommt, dann laufen wird davon. Eine Gesellschaft, die keine Kultur eines würdevollen Umgangs mit Schuld kennt, nur Stärke zeigt und das Gesicht zu wahren versucht, läuft vor sich selbst davon. Denn nichts ist von größerer Nachhaltigkeit als die Ausreden.

Sendereihe