Zwischenruf

von Bischof Michael Bünker (Wien)

"Erinnerung schafft Erlösung"

Weit mehr als zehntausend Menschen werden es wieder sein, die - wie alle Jahre am zweiten Sonntag im Mai - zur Befreiungsfeier im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen kommen. Ein großer Zug des Erinnerns mit Vertreterinnen und Vertretern aus aller Herren Länder, in denen es Opfer der Nazidiktatur gegeben hat. Die Befreiungsfeier beginnt mit einem ökumenischen Gottesdienst, aber auch an den Mahnmalen der verschiedenen Länder finden Gottesdienste in den jeweiligen Landessprachen statt, an dem Israels, das für die ermordeten Jüdinnen und Juden steht, spricht ein Rabbiner das Totengebet, das Kaddisch. Seit Vertreter und Vertreterinnen der Evangelischen Kirche an den Befreiungsfeiern teilnehmen, werden sie mit der Vergangenheit der eigenen Kirche konfrontiert. Mit der tiefen Verstrickung in die nationalsozialistische Ideologie, mit dem bei Evangelischen weit verbreiteten Antisemitismus, mit Mitläufertum und Wegschauen. Die, die nicht mitgemacht haben, die sich widersetzt haben, waren Ausnahmen. Einer von diesen wenigen, der reformierte Pfarrer Zsigmond Varga, ist im KZ Mauthausen umgekommen.

Sich der eigenen Vergangenheit zu stellen heißt zuerst einmal, der Opfer zu gedenken. Sie dürfen nie vergessen werden, die Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti, die sogenannten Asozialen und die Kriegsgefangenen, all die Tausende, die in Mauthausen und seinen zahlreichen Nebenlagern im ganzen Lande grausam ermordet wurden oder durch die unmenschliche Gewalt umgekommen sind. Das Gedenken gilt den Opfern des Krieges, den Soldaten und der Zivilbevölkerung, den Deserteuren, Wehrdienstverweigerern und Widerstandskämpfern und -kämpferinnen. Gut, dass auch ihnen in diesem Jahr endlich ein Denkmal in Wien errichtet wird. Das Gedenken betrifft auch die Täter, nicht selten bis in die eigene Verwandtschaft hinein. Es heißt auch, Schuld einzugestehen und nichts zu beschönigen. Die Wahrheit wird euch frei machen, heißt es im Evangelium, und die Wahrheit tut manchmal weh.

Die Befreiungsfeier in Mauthausen steht jedes Jahr unter einem bestimmten Thema. Heuer ist es der "Wert des Lebens". Mit der Ideologie des Rassismus hatte der Nationalsozialismus ganze Bevölkerungsgruppen ausgegrenzt, zu unwertem Leben erklärt und auch so behandelt, bis hin zur systematischen Vernichtung.

Das Gedenken daran wird zum wahren Erinnern, wenn es sich für heute auswirkt. Auch heute werden ganze Gruppen von Menschen, meist Minderheiten, zu "den anderen" erklärt, zu solchen, die angeblich nicht dazu passen und daher auch nicht dazugehören. Die man lieber weg haben möchte. Die Zahl antisemitischer und rassistischer Übergriffe in Europa steigt. Wenn sich Mehrheiten unter einem falschen Wir-Bewusstsein von den anderen, den Minderheiten, abgrenzen, endet das beinahe zwangsläufig in Gewalt, so der Generalsekretär des Europarates Thorbjoern Jagland. Wir sehen es aktuell in der Ukraine. Die verschärften Abschottungstendenzen Europas an den Außengrenzen und die weithin menschenrechtswidrige Behandlung der Roma und Sinti innerhalb Europas zeigen, dass die Kräfte, die das Denkschema "Wir und die anderen" zur Maxime auch des politischen Handelns machen, ungebrochen, ja offenkundig im Zunehmen sind. Im Zunehmen ist auch die Hasskriminalität in Europa, also Gewalt und Straftaten, die durch Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, religiöse Intoleranz oder durch eine Behinderung, die sexuelle Ausrichtung oder Geschlechtsidentität einer Person, motiviert sind. Hasskriminalität schadet nicht nur dem Opfer allein, sondern allen anderen Angehörigen derselben Gruppe sowie der Gesellschaft insgesamt.

Dem berühmten Rabbi Baal Shem-Tov - er lebte im 18. Jahrhundert im Gebiet der heutigen Westukraine - wird der Ausspruch zugeschrieben: "Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung". So lehrt uns das Erinnern, heute wachsam zu sein, mutig einzutreten für die Würde und Rechte der Menschen, einen Beitrag zu leisten für ein Zusammenleben in Gerechtigkeit und Frieden.

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