Gedanken für den Tag

von Cornelius Hell, Literaturkritiker. "Sag die Wahrheit, nicht nur das, was real ist" - Zum 100. Geburtstag des Theatermenschen und Schriftstellers George Tabori. Gestaltung: Alexandra Mantler

Etwa 80 Prozent der Verwandtschaft von Georges Tabori sind in den Konzentrationslagern umgekommen. Auf die Frage, was er fühle, wenn er daran denke, sagte Tabori in einem Interview: "Ich fühle Schmerz." Der Interviewer fragte nach: "Nicht auch Hass auf die Mörder?" Taboris Antwort: "Nein."

Das ist das Singuläre am Werk von Tabori: die Erinnerung an die Opfer ohne Hass auf die Täter. Darum hatte er auch kein Problem, 1969 aus Amerika zurück nach Deutschland zu kommen. "Ich kann Menschen nicht pauschal begegnen. Es gibt nicht so etwas wie "die Deutschen" . einem jeden muss ich persönlich begegnen, alles andere ist für mich das Böse und Lüge", sagte er einmal.

Auch den Opfern begegnet Tabori in seinen Stücken persönlich. Er stellt sie in einzigartigen, grotesken, unverwechselbaren Situationen dar und verhindert damit das Einrasten schon bekannter Bilder. Gedächtnis verkommt nicht zum Ritual, sondern findet und erfindet immer wieder neue Formen.

Warum es Tabori nicht um die Schuld der Täter geht, hat er einmal ganz klar gesagt: "Wer immer wieder in den sogenannten Schuldgefühlen der Deutschen rumbohrt, ist dumm. Leute, die sich schuldig fühlen, sind gefährliche Leute. Unvermeidlich fangen sie an, Schlimmes mit den Leuten zu machen, gegen die sie Schuldgefühle haben. Das ist auch im Privatleben so. Ein Mensch verdrängt nicht, weil er feige ist, sondern weil es weh tut." Das heißt natürlich nicht, dass Tabori diese Schuld leugnet oder dass er gar die Juden, die diese Schuld benennen, für den Antisemitismus verantwortlich macht. Aber er spricht hier einen Kernsatz aus, der sein Werk prägt und der eine hohe Deutekraft nicht nur für den Umgang mit dem, der Schuld am Holocaust hat, sondern für das Verstehen vieler Verleugnungen und Verdrängungen im politischer wie auch im privaten Bereich hat: "Ein Mensch verdrängt nicht, weil er feige ist, sondern weil es weh tut."

Service

George Tabori, Autodafé und Exodus. Erinnerungen, Verlag Klaus Wagenbach
George Tabori, Das Oper, Verlag Steidl
George Tabori, Gefährten zur linken Hand", Verlag Steidl
George Tabori, Ein guter Mord, Verlag Steidl
George Tabori, Tod in Post Aarif, Verlag Steidl
George Tabori, Theater. Band 1, Verlag Steidl
George Tabori, Mein Kampf. Textausgabe und Materialien, Verlag Klett-Cotta
George Tabori, Mutters Courage, Verlag Klaus Wagenbach
Stefan Scholz, Von der humanisierenden Kraft des Scheiterns. George Tabori - Ein Fremdprophet in postmoderner Zeit, Verlag W. Kohlhammer
Anat Feinberg, George Tabori, Deutscher Taschenbuch Verlag
Jan Strümpel, Vorstellungen vom Holocaust. George Taboris Erinnerungs-Spiele, Wallstein Verlag

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Modest Mussorgsky/1839 - 1881
Album: Russische Klaviermusik
Titel: Eine Träne < Une larme > - für Klavier
Solist/Solistin: Margaret Fingerhut /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: Chandos 8439

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