Gedanken für den Tag

von Mirja Kutzer, Germanistin und katholische Theologin. "Erlesen Reisen". Gestaltung: Alexandra Mantler

22. Juli 2014, 06:56

Mitten im Leben darüber hinaus
Was wäre, wenn heute Morgen plötzlich alles anders wäre als gewöhnlich. Was wäre zum Beispiel, wenn Ihnen auf dem Weg zur Arbeit eine Portugiesin begegnete, die augenscheinlich Selbstmord begehen will. Sie würden sie davon abhalten und kämen deshalb zu spät zur Arbeit - das erste Mal überhaupt. Dann fiele Ihnen noch ein Buch in die Hände, das Sie mit der Nase auf ihr eigenes Leben stößt. Darin steht etwa folgende Frage: "Gibt es ein Geheimnis unter der Oberfläche menschlichen Tuns? Oder sind die Menschen ganz und gar so, wie ihre Handlungen, die offen zu Tage liegen, es anzeigen?" Wie berechenbar ist also der Mensch? Wie frei ist sein Inneres gegenüber dem, was außen sichtbar ist? Wie fixiert seine einmal gefundene Identität? Der Lateinlehrer Raimund Gregorius, dem dies alles passiert ist, gibt seine vorhersehbare Existenz auf. Er verlässt den Unterricht und die Stadt Bern. Mit dem Buch im Gepäck steigt er in den Nachtzug nach Lissabon, der Paul Merciers Roman den Namen gibt. Er begibt sich auf die Suche nach dem Leben des Buchschreibers, und nach seinem eigenen.

Der Roman nimmt sein Publikum mit auf diese Reise. Für die Leserin, den Leser, bleibt dabei augenscheinlich alles beim Alten. Er lässt reisen, muss nicht selbst hineinsteigen in den nächtlichen Zug und kann sein Leben unverändert weiterführen. Doch ist der Akt der Lektüre ebenso komfortabel wie gefährlich - denn in ihm überschreitet auch der Leser unweigerlich sein eigenes Leben. Selbst auf der gemütlichen Couch zeigt ihm die Lektüre der Fiktion, dass auch seine Identität veränderbar ist, dass es eine Unzahl anderer Möglichkeiten gegeben hätte oder noch zu verwirklichen wären. Zu lesen wird darin ebenso verheißungsvoll wie bedrohlich. Letztlich ist es aber eine unvergleichliche Chance - mitten im Leben darüber hinaus zu sein.