Zwischenruf

von Susanne Heine (Wien)

Keine Angst vor den Ängsten

Ein neues Jahr ist angebrochen. So steht es im Kalender. Aber der Lauf der Dinge schert sich nicht um den Kalender, und es ist zu befürchten, dass alles so weitergeht wie bisher, wenn nicht gar alles noch schlimmer wird. Laut Statistik sehen die meisten Menschen die Zukunft eher schwarz.

Was auf diesem Globus alles geschieht, kann schon Angst machen. Angst ist nützlich, ist dem natürlichen Lebenstrieb, der Selbsterhaltung eingepflanzt. Nicht zufällig sind alle Lebewesen mit einer wachen Aufmerksamkeit ausgestattet, um Bedrohungen zu erkennen. Was bei den Tieren die unmittelbaren Instinkte regeln, hat beim Menschen allerdings mit dem Bewusstsein zu tun, das einem allerhand Streiche spielen kann. Es ist möglich, ein Vergrößerungsglas auf das Schreckliche zu richten und sich Szenarien des Untergangs auszumalen. Es ist auch möglich, das Gegenteil zu tun, in die Welt der Träume zu flüchten und die Realität auszublenden. Angst kann sich steigern in eine Existenzangst, die alles überflutet und zu einer emotionalen Betäubung führt, die keine Freude an irgendetwas und keine liebevollen und freundschaftlichen Beziehungen mehr zulässt.

Es gibt einen Spruch, der mir sehr einleuchtet: Wie ich die Welt sehe, so ist sie auch. Und entsprechend handle ich auch oder - tue nichts. Der angstvolle Blick macht das Herz eng und schnürt die Kehle zu. Wer sich auf die eigene Sicherheit konzentriert und auf die bloße Selbsterhaltung zurückwerfen lässt, verliert den Kontakt zur Gemeinschaft und gerät in Isolation. Oder verlagert die eigene innere Angst auf einen vermeintlichen äußeren Feind, der mit versteckten Machenschaften überall lauert und bekämpft werden muss. Jede Lüge muss aufgedeckt, auf die Bösen muss Jagd gemacht werden. Die damit verbundene heroische Haltung verleiht eine trügerische Glaubwürdigkeit.

Für mich hat der Philosoph Immanuel Kant schon Recht, wenn er den Menschen einen Bürger zweier Welten nennt. Die eine ist die natürliche, die uns ins Leben zwingt und in den Tod. Die andere, die Welt des Bewusstseins, hebt jedoch darüber hinaus, gewährt Distanz zur Betrachtung der Dinge, kennt Visionen einer besseren Zukunft und ist imstande, Oasen guten Lebens zu gestalten. Diese Vernunft gedeiht nur in einem Klima nüchterner Analyse und einer angstfreien mitfühlenden Zuwendung zu allen Menschen. Angst hingegen hält ein Leben in Knechtschaft, und in dieser Erstarrung ersticken alle kreativen Ideen. Wie ich die Welt sehe, so ist sie auch. Und entsprechend handle ich.

Gegen die Angst hilft, sich ihr zu stellen, sie als meine Angst zu sehen und anzuerkennen. Damit sind nicht alle Gefahren gebannt, aber Kopf und Herz frei, Mittel und Wege für ein besseres Leben zu suchen, für sich und für andere. Vermeidung, Abwehr oder Kampf gegen die anderen richten daher gegen die Angst nichts aus, sondern steigern sie nur. Die Angst vor den Ängsten lähmt, weil sie vorwegnimmt, was möglich sein könnte, und im Schrecken verharrt, der gewesen ist.

Die kirchliche Praxis krankt zuweilen daran, dass sie die Angst zu schnell beschwichtigt, als beschämenden Mangel an Glauben darstellt und durch einen moralischen Appell zu beseitigen sucht, als wäre ein Leben ohne Angst und Auflehnung, ohne Klage und Anklage möglich. Einem Hiob aber halfen, so erzählt die biblische Geschichte, keine Ermahnungen seiner besten Freunde; er musste seine Angst und Verzweiflung durchleben, um davon frei zu werden. Paulus ging durch ein inneres Feuer, in dem seine Vorstellung von sich selbst erst verglühen musste, nämlich ein guter Mensch zu sein, der Andersdenkende zu Recht verfolgt; erst danach konnte er seine Begabungen entfalten.

Die Liebe des Menschen entsteht nur dort, wo sie Liebenswertes vorfindet, schreibt Martin Luther. Aber was in dieser Welt ist schon liebenswert? Anders bei Gott: Die Liebe Gottes braucht nichts Liebenswertes vorzufinden, weil sie es erschafft. Ich sehe uns als Mitarbeiter Gottes, die ohne Angst um sich selbst viel Liebens- und Lebenswertes wecken können. Hoffnung besteht darin, eine Frage umzukehren. Nicht: Was kann ich von der Zukunft erwarten? sondern: Was kann die Zukunft von mir erwarten?

Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Hilmar Örn Hilmarsson
Titel: Coffin
Länge: 00:25 min
Label: SMS 01

weiteren Inhalt einblenden