Gedanken für den Tag

von Brigitte Schwens-Harrant, Theologin und Feuilletonchefin der Wochenzeitung "Die Furche". Gestaltung: Alexandra Mantler

Die Kraft der Erzählung

Jede und jeder wächst mit Geschichten, mit Erzählungen auf. Seien es die Geschichten über einen Onkel, den man nie gekannt hat, aber der einem durch die Erzählungen der Großmutter, die jedes Mal ein wenig anders klangen, so vertraut wurde, als hätte man mit ihm gelebt. Seien es die Geschichten der Eltern darüber, wie sie sich kennen gelernt haben. Sie können sich stark darin unterscheiden, je nachdem wer sie erzählt.

Erzählen ist ein Grundbedürfnis des Menschen. In allen Gesellschaften, zu allen Zeiten und an allen Orten wird erzählt. Erfahrungen werden so an den Nachbarn ebenso weitergereicht wie an die nächste Generation, sie überschreiten Zeiten und Räume.

Erzählen versammelt Menschen und verbindet sie - manchmal auch gegen andere. Durch Erzählungen formen Individuen und Gruppen Identität. Gemeinsame Erzählungen erklären, warum die Welt, die Gesellschaft, die Gemeinschaft, in der die Zuhörenden leben, so geworden sind, wie sie sind. Sie machen Erinnerung.

Auch Religionen wissen von dieser Bedeutung der Erzählungen. In den großen Buchreligionen wie Judentum, Christentum und Islam wird das deutlich durch die schriftlichen Überlieferungen, aber auch in Ritualen. Wenn etwa im jüdischen Pessach-Fest das jüngste der anwesenden Kinder dem Ritual gemäß fragt, was diese Nacht von allen anderen Nächten unterscheide, antwortet der Hausvater mit einer Erzählung: "Sklaven waren wir einst dem Pharao in Ägypten, da führte uns der Ewige, unser Gott, von dort heraus mit starker Hand und ausgestrecktem Arm."

Die Geschichte der Befreiung aus der Sklaverei richtet sich an alle, wo auch immer sie leben, ob in Freiheit oder Sklaverei. Wer diese Geschichte hört, soll die Rettung als gegenwärtig erleben.

Das kollektive Erinnern in Geschichten begründet nicht nur die Gemeinschaft und erklärt, warum sie so geworden ist, sie erschafft sie auch. Die Erfahrung einer solchen Erzählnacht ist auch: Erzählen schafft Wirklichkeit. Und es entreißt Vergangenes dem Vergessen.

Service

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Komitas (Soghomon Soghomonian)/1869 - 1935
Vorlage: Traditional / Armenien
Bearbeiter/Bearbeiterin: Sergei Z. Aslamazian /Arrangement./1897 - 1978
Urheber/Urheberin: KOMITAS (Vardapet S. Soghomonian)/26.9.1869 Kutais (Kutahia) - 22.10.1935 Paris
Album: TÄNZE AUS DEM HERZEN EUROPAS / I Musici de Montreal
Titel: Nr.10 Habrban : Allegro (00:01:22)
Gesamttitel: ZEHN ARMENISCHE VOLKLIEDER UND VOLKSTÄNZE - für Streichorchester
Ausführende: I Musici de Montreal
Leitung: Yuli Turovsky /Violoncello und Leitung
Ausführender/Ausführende: Jacques Proulx /Percussion
Länge: 02:00 min
Label: Chandos CHAN10094

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