Zwischenruf

von Pfarrer Marco Uschmann (Wien)

Europa ist hilflos. Angesichts der Menschen, die versuchen nach Europa zu fliehen, fällt den Europäern nichts anderes ein, als die Grenzen noch dichter zu machen. Aber das hilft nichts. Es fliehen immer mehr Menschen, besser gesagt, versuchen, zu fliehen.

Kamen 2010 rund 10.000 Menschen über das Mittelmeer, waren es 2011 rund 70.000. Diese Zahl hat sich 2014 jedoch vervielfacht: Mehr als 218.000 Flüchtlinge kamen im vergangenen Jahr über das Mittelmeer. Und es werden vermutlich mehr: Die EU-Grenzschutzagentur Frontex rechnet für 2015 mit 500.000 bis zu einer Million Menschen. Politiker sagen, in Libyen warteten rund eine Million Flüchtlinge auf die Überfahrt in die EU. Inzwischen aber sind immer weniger Menschen in Europa bereit, diese menschliche Katastrophe hinzunehmen. Flüchtlingen muss geholfen werden, sagen sie. Recht haben sie. Selbstverständlich.

Vergangenen Montag haben tausende in der Wiener Innenstadt protestiert, weil kurz zuvor hunderte Menschen auf ihrer Flucht gestorben sind. Ertrunken, weil sie in überfüllten Nussschalen versuchen, den scheinbar gelobten Kontinent Europa zu erreichen. Es sei eine "Schande" heißt es, wie Europa angesichts der Flüchtlinge reagiert. Das stimmt, aber das hilft nichts. Leicht könnte das reiche Europa die Geflohenen aufnehmen, versorgen, einfach helfen.

Aber die Menschen in Europa, die Regierungen, reagieren hilflos und lächerlich: Leere Flüchtlingsboote versenken. Wie denn, welches Boot ist ein Flüchtlingsboot und welches ein Fischerboot? Auffanglager in Nordafrika errichten. Wie denn? Verhandeln mit Warlords, die dort breite Regionen kontrollieren? Der Bestechung würde Tür und Tor geöffnet.

Ich denke, hier ist ein Schnitt im Denken notwendig. Grundlage allen Denkens und Handelns ist die Prämisse, dass Menschen auf der Flucht geholfen werden muss. Niemand wird das in Abrede stellen, aber die Handlungen sehen anders aus. Also: Flüchtlingen muss geholfen werden. Dazu braucht es keine Bibel, keine Nachhilfe in Nächstenliebe. Dazu braucht es schlicht und einfach Menschenfreundlichkeit. Andererseits kann ich niemandem Menschenfreundlichkeit in Abrede stellen. Ich vermute eher eine diffuse Angst vor dem Fremden und vor den Fremden.

Fragt sich nur, warum die Europäer, warum die Österreicherinnen und Österreicher diese Angst haben. Denn die Geschichte dieses Landes zeigt ja einen nahezu beispielhaft guten Umgang mit Flüchtlingen. Ich erinnere an die Hilfe, als nach Ende des 2. Weltkrieges die sogenannten heimatvertriebenen Menschen aus Siebenbürgen hier eine neue Heimat suchten und selbstverständlich bekamen. 1956 wurde unzähligen Ungarn unter die Arme gegriffen - sie sind auf der Flucht nach Österreich gekommen. Und jetzt stehen wir hilflos vor dieser "monströsen Katastrophe", die "durch Mark und Bein" geht, wie es Bundespräsident Heinz Fischer am Montagabend bei der Demonstration angesichts der hunderten ertrunkenen Flüchtlinge formuliert hat. Vielleicht ist es die Angst vor dem Fremden, vielleicht auch die Angst vor Wohlstandsverlust, der die europäischen Grenzen dicht macht.

Aber es gibt immer mehr Menschen hier, die das nicht hinnehmen wollen. Es hilft nur nichts, "Schande" zu rufen und Politiker zu beschimpfen. Selbstverständlich müssen sofort wieder funktionierende Hilfsprogramme wie "Mare Nostrum" installiert und von der EU finanziert werden. Das hat Italien110 Millionen Euro im Jahr gekostet. Der Gesamthaushalt der EU beträgt 156 Milliarden Euro im Jahr. Es sieht also nicht so aus, als ob Mare Nostrum die EU verarmen lässt. Das aber wird bei weitem nicht ausreichen. Vielleicht liegt hier das Motiv, dass so viele Europäerinnen und Europäer die Grenzen dicht haben möchten: Es scheint tatsächlich die Furcht vor Wohlstandsverlust zu sein und so investieren sie lieber in Zäune und Grenzsicherungsanlagen als in Hilfe für die Flüchtlinge.

Europa ist hilflos. Vielleicht hilft es den Menschen doch, hier einen biblischen Halt zu bekommen. Denn dieses alte und weise Buch wusste schon vor tausenden Jahren, wie es um die Menschen bestellt ist. Mord und Totschlag, Flucht und Vertreibung, all dies findet sich im Buch der Bücher. Aber auch Geschichten von Hilfe, von Zuwendung und von Liebe. Die Summe all dessen fasst Jesus Christus zusammen in dem ganz schlichten und einfachen Satz: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. So sollten sich die Menschen in Europa bei aller Hilflosigkeit die Frage stellen: Was, wenn ich betroffen wäre?

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