Gedanken für den Tag

29. April 2015, 06:56

Meine Familie war nicht wahnsinnig kunstsinnig und trotzdem hatten wir Freude, wenn etwas schön war, aber auch, wenn etwas gut formuliert war. Wir sind nicht in große Theateraufführungen gegangen aber wir hatten gerne Gedichte. Gedichte sind auch bei allen Geburtstagen, usw. aufgesagt worden. Einer der Lieblingsdichter war Rainer Maria Rilke.

Von meinem Bruder habe ich vor Jahrzehnten diese Verse kennen gelernt: "Zufälle sind die Menschen, Stimmen, Stücke, Alltage, Ängste, viele kleine Glücke, verkleidet, schon als Kinder eingemummt, als Masken mündig, als Gesicht verstummt." Die nächste Strophe kann ich nicht auswendig, aber die übernächste, die führt ein bisschen dem Ziel näher: "Und wenn ich abends immer weiter ginge, in meinem Garten drin ich müde bin" - ich finde, das ist wie die Zeit vorm Einschlafen, wo man schon zu müde ist, dass man die Gedanken streng dirigieren kann, wo die Gedanken machen können, was sie wollen. "Und wenn ich abends immer weiter ginge, in meinem Garten drin, ich müde bin. Ich weiß, dann führen alle Wege hin zum Arsenal der ungelebten Dinge".

Ich finde, in dieser Zeit, wo man eben schon so müde ist, da kann das Leben noch anklopfen. Und die Sehnsucht, die oft verschüttet ist, bringt sich in Erinnerung und will, dass das Ungelebte lebt und je größer die Portionen des Ungelebten sind, umso stärker die Aggression gegen die Natur, gegen die Mitmenschen und gegen uns selbst und je mehr wir das leben, was unserer Sehnsucht entspringt, umso kooperationsfähiger werden wir mit Mensch, Natur und auch uns selbst.

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Sendereihe

• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler