Gedanken für den Tag

von Norbert Mayer, Leitender Redakteur im Feuilleton der Tageszeitung "Die Presse". "Seit heute, aber für immer ..." - Zum 100. Geburtstag von Christine Lavant. Gestaltung: Alexandra Mantler

Ich will das Brot mit den Irren teilen,
täglich ein Stück von dem großen Entsetzen,
auch die Glocke im Herzen,
dort, wo die Taube nistet
und ihre winzige Zuflucht hat
in der Wildnis über den Wassern.
Lange hab ich als Stein gehaust
am Grunde der Dinge.
Aber ich habe die Glocke gehört
leise von deinem Geheimnis reden
in den fliegenden Fischen.
Ich werde fliegen und schwimmen lernen
und das Steinerne unter den Steinen lassen,
die Schwermut betten in Perlmutter,
doch den Zorn und das Elend erheben.
Meine Flügel sind älter als deine Geduld,
meine Flügel flogen dem Mut voraus,
der das Irren auf sich nahm.
Ich will das Brot mit den Irren teilen
dort in der furchtbaren Wildnis der Taube,
wo die Glocke das große Entsetzen drittelt
zum dreifachen Laut deines Namens.

1959 erschien Christine Lavants Gedichtband "Spindel im Mond", mit 150 Gedichten, die ab 1949 entstanden waren. Sie festigten den Ruhm der Autorin, die offenbar bereits alle Phasen der Melancholie durchlebt hatte. Thomas Bernhard sagte, ihre Lyrik sei das elementare Zeugnis eines von allen guten Geistern missbrauchten Menschen, sei "große Dichtung, die in der Welt noch nicht so, wie sie es verdient hat, bekannt ist".

Der damals noch sehr junge Schriftsteller machte sie in den Fünfzigerjahren mit der Avantgarde bekannt, die das Künstlerpaar Lampersberg am Tonhof bei Maria Saal um sich scharte. Dort schätzte man die Lavant für ihre Schlagfertigkeit und ihren Humor. 1987, kurz vor seinem Tod, hat Bernhard eine Auswahl von Gedichten Lavants herausgegeben, mit der Absicht, ihre Popularität zu steigern.

Der Text "Ich will das Brot mit den Irren teilen" zählt zu den bekanntesten der Dichterin, er ist rätselhaft versehen mit einer Fülle christlicher Symbole: Das Brot des Abendmahls, das mit den Außenseitern geteilt wird, die Taube, Zeichen des Heiligen Geistes, der Fisch, ein urtümlich christliches Symbol, und der dreifache Laut deines Namens. Höre: Nicht die Schuld, sondern das Irren nimmt hier eine auf sich in apokalyptischer, furchtbarer Wildnis.
Es ist zum Fürchten. Der Schriftsteller und Verleger Michael Krüger hat in seinem Beitrag zu einem soeben bei Wallstein erschienenen Würdigungsband zum hundertsten Geburtstag der Autorin gestanden, dass ihn die ersten Gedichte Lavants vor fast sechzig Jahren bis ins Tiefste erschrocken haben: "Wer so mit Gott redete", so Krüger, "und in aller Klarheit und Bestimmtheit die höchste Instanz herausforderte, der musste entweder ein Narr sein oder ein Ketzer oder eben beides."

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Sendereihe

Playlist

Komponist/Komponistin: Robert Schumann/1810 - 1856
Titel: Symphonische Etüden für Klavier op.13
* 21. XI: Etüde 8 < Variation VII > : Andante (00:02:50)
Anderssprachiger Titel: Etudes symphoniques
Solist/Solistin: Tzimon Barto /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: EMI CDC 749970 2

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