Gedanken für den Tag

13. Juli 2015, 06:56

Als ich 18 Jahre alt geworden war, den Führerschein gemacht und maturiert hatte, wusste ich, dass mir die Welt des Autos noch lange verschlossen bleiben würde. Ich verdiente nur in den Ferien ein wenig, studierte und lebte von den Eltern. Ich gehörte nicht zu den Benzinbrüdern.

Aber ich wollte fahren. Ich wollte fallweise wegkommen, andere Gegenden sehen und wieder nach Hause kommen können. In der Garage stand ein Zehngangrad, das ich zum 12. Geburtstag bekommen hatte. Gerissene Speichen, raue Lager, brüchige Reifen verlangten nach Reparatur. Danach montierte ich alles Überflüssige ab und los ging's, hinaus auf die Straßen, in den Nahkampf mit den Autos, die jedes Mal vor mir eine ätzende Geruchspur hinlegten.

Und dann die Entdeckung, die ich heute noch spüre: Auf einer abgeschiedenen kleinen Straße fühlte ich, wie ich freier wurde, nicht gedrängt, nicht gehetzt war und sich auch das banale Problem löste, dass ich ja gar nicht wusste, wohin ich eigentlich fahren wollte. Ich wollte nirgendwohin fahren, ich wollte einfach nur fahren, das Radfahren spüren und mit ihm den Wind, die Wiesengerüche, die Misthaufen, den Duft eines Waldes, fremde Stimmen hören, das langsame Verrücken der Horizonte sehen und mich einer herrlichen Einsamkeit ergeben, in der ich intensiv körperlich anwesend war. Herrlich war das: Der Körper nicht als schmerzender Feind, nicht als Bleigewicht, nicht als Problemzonenanlage, sondern als eine Gabe, die ich selber bin, ein Geschenk, das mich hinausträgt ins Freie.

Mit dem Radfahren ohne Ziel habe ich seither nicht mehr aufgehört.

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Sendereihe

• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler