Gedanken für den Tag

18. Juli 2015, 06:56

Auf städtischen Radwegen tummelt sich ein lustiges Volk von Radfahrern und Radfahrerinnen, die eine Gegenwelt zu den polierten Limousinen und Sportwagen bilden. Quasten hängen von Lenkern, Kunstblumen winden sich um Rahmenrohre, abgeschabte Sättel zeugen von vielen Kilometern, rostige Ketten singen vor sich hin, Hinterräder eiern und Kotbleche zittern in den letzten Ösen - und dazu mancher Radfahrer, von dem man nicht weiß, ob er am Rand der Obdachlosigkeit lebt, ein Cowboy aus einem alten Western ist oder ein Macher inkognito.

Wie Rad gefahren wird und wer Rad fährt, hat fast immer etwas mit Weltanschauung zu tun. Vor dem Aufstieg des Autos war Radfahren der realisierbare Traum, frei und günstig reisen zu können. Heute ist das oftmals anders. Radfahren ist - neben vielem anderen - auch zu einem Zeichen einer ökologischen Gegenwelt zu Zerstörung und Ausbeutung von Natur und Mensch geworden.

Für die Fortbewegung eines Menschen braucht es nicht eineinhalb Tonnen, sondern nur 10 Kilogramm. Um 100 Kilometer zu fahren, braucht es nicht die Energie von 60.000 Kilokalorien oder mehr, es genügen 1.200. Wegzeiten müssen nicht ignorierte Zwischenzeiten sein, sondern können Zeiten der Erfahrung werden - ganz wörtlich genommen. Wechselnde Jahreszeiten sind nicht lästige Hindernisse des Fortkommens, sondern geben dem Leben seinen Rhythmus.

Vielleicht ist Radfahren ja nicht einmal eine Gegenwelt, sondern einfach die Möglichkeit, die Welt und die Zeit, in der ich lebe, wieder neu zu entdecken, zu durchstreifen, zu fühlen und zu erfahren - und dabei aufmerksamer zu werden für all das, was mich umgibt, was mich bedroht und was mir Leben schenkt.

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