Zwischenruf

von Pfarrer Michael Chalupka (Wien)

Wir werden beim Namen gerufen

Erblicken wir das Licht der Welt, werden wir beim Namen gerufen. Wir suchen uns unseren Namen nicht aus. Wir werden genannt. Da spielt es keine Rolle, dass wir noch keine geistvollen Gespräche über Gott und die Welt führen können. Wir sind auf der Welt und das ist genug. Wir werden bei unserem Namen gerufen, bevor wir die, die uns rufen, kennen.

Wenn Menschen dement werden, zu vergessen beginnen, dann tauchen plötzlich andere Formulierungen auf. Demenz, können wir dann hören, sei eine furchtbare Krankheit, die letzten Endes die Persönlichkeit zerstöre. Da scheint es nicht mehr genug zu sein, auf der Welt zu sein und beim Namen genannt zu werden. Zu bedrohlich ist die Vorstellung, sich von vielem, was uns ausmacht, schrittweise zu verabschieden, sich nicht mehr allein orientieren zu können, Namen zu vergessen oder die Gesichter seiner Liebsten.

Der Schrecken liegt schon im Wort Demenz. Mens ist ja das lateinische Wort für Geist, Verstand, Vernunft. Demenz meint also die fortschreitende Abwesenheit des Verstands, des Verstands, über den wir uns definieren, mit dem wir die Welt und uns selbst wahrnehmen.

Wir sind aber mehr als nur Geist, Verstand und Vernunft. Wir sind auch mehr als Erinnerung. Wir sind Leib und Seele, Gefühl und Gestalt. In dieser Zeit des Advent tut es gut, sich daran zu erinnern, dass selbst Gott nicht nur die reine Vernunft, Geist oder Verstand ist. Gott ist Mensch geworden, so glauben es Christinnen und Christen, und er ist als schutzloses Kind auf die Welt gekommen. Gott ist Mensch geworden in all seinen Facetten. An anderer Stelle heißt es: "Das Wort ward Fleisch!" Es bleibt nicht beim Wort, Menschsein ist mehr, ist Körper und Geist.

Was aber, wenn man Gott vergisst, wie die 82-jährige Bewohnerin eines Pflegeheims, die mit ihrer Demenz oder, wie sie es sagt, mit Herrn Alzheimer lebt und die Andrea Fröchtling* in ihrem Buch. "Und dann habe ich auch noch den Kopf verloren...". über Demenz erzählen lässt?

"Wissen Sie, das Leben, das war dies und das, von jedem was, nicht wahr? Und dann kam Herr Alzheimer und hat alles um- und dummgewirbelt. Und ich habe vergessen - uh, was habe ich alles vergessen. Furchtbar, furchtbar, furchtbar. ... Und dann ... dann kam so ein Tag, ... und dann hab ich auch noch den Kopf verloren. Wie weg, alles blank. Irgendwie, leben muss ich ja irgendwie mit diesem Herrn Alzheimer, auch wenn ich ihn nicht eingeladen habe. Nun ist der da und basta. Ja. Was ich sagen wollte ... Meine Handtasche, also die, ... meine Handtasche, wenn ich sie verliere, die Schwester sagt mir dann, wo sie ist, wenn ich sie suche. Aber dann war auf einmal Gott weg, ja, das mit Gott und so, ... also ich konnte das alles gar nicht mehr begreifen, ... und da habe ich sie halt gefragt, die Schwester, meine ich. ,Schwester', habe ich gefragt, ,wo habe ich denn Gott hingelegt? Der hat sich versteckt wie meine Handtasche.' ,Nee', sagt die Schwester, ,nee, weiß ich nicht, wo du Gott hingelegt hast.' Na, dann ist er wohl weg, was? Mit Handtasche weg, da kannst leben. Mit Kopf weg, na ja, irgendwie auch. Aber mit Gott weg?"

Wie lässt es sich leben, wenn Gott weg ist. Gott kann man vergessen oder auch verlegen und nicht wieder finden. Das kann einem auch passieren, wenn man nicht in der Lebensphase des Vergessens lebt.

Beim Propheten Jesaja heißt es: "Ja, ich rief dich bei deinem Namen und nannte dich, da du mich noch nicht kanntest". Dort ist der Satz auf Gott bezogen, dort ist er es, der uns beim Namen ruft, auch die, die ihn vergessen haben. Doch im Leben haben wir das alle erfahren. Die Mutter, der Vater, die oder der Liebste, sie haben uns beim Namen gerufen, bevor wir sie kannten. Gilt dieser Satz, so gilt wohl auch der Satz: "Ja, ich rufe dich bei deinem Namen und meine dich, auch wenn du mich nicht mehr kennst. Denn du bist auf der Welt und das ist genug." Er gilt bei Gott genauso wie im Leben.

Service

Buch, Fröchtling, Andrea, "Und dann habe ich auch noch den Kopf verloren... Menschen mit Demenz in Theologie, Seelsorge und Gottesdienst wahrnehmen", Evangelische Verlagsanstalt

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