Radiokolleg - Der Neue Realismus

Wie viel Wirklichkeit braucht Veränderung? (1).
Gestaltung: Johannes Gelich

Seit Maurizio Ferraris Manifest des "Neuen Realismus" im Jahr 2012 ist der Realismus wieder in aller Munde. Mit den postmodernen philosophischen Konzepten des Konstruktivismus und Poststrukturalismus wurde der Realismus lange als "naiv" abgetan. Es gäbe keinen direkten Zugang zur Wirklichkeit, wir würden einzig Begriffe und Systeme hervorbringen, unter deren Ägide die Wirklichkeit oder die Welt bestenfalls verzerrt wahrzunehmen sei. Der Neue Realismus hält dagegen sowohl am Begriff des Wissens als auch am Begriff der Wahrheit fest.

In den Debatten des Neuen Realismus rund um Philosophen wie Markus Gabriel und Maurizio Ferraris taucht vermehrt wieder das Argument der Faktizität auf, das davon ausgeht, dass allen Konstruktionen von Wirklichkeit doch eine erkennbare Realität zugrunde liegen muss. Die Postmoderne und der radikale Konstruktivismus negierte eine derart erkennbare Wirklichkeit als intolerante absolute Kategorie.

Die Kritik an postmodernen Theorien hat längst auch in andere Disziplinen Eingang gefunden: Der Medientheoretiker Rainer Leschke wirft postmodernen Medientheorien Effekthascherei, Populismus und mangelnde Konsistenz der theoretischen Modelle vor und fordert vermehrt wieder wissenschaftliche Kriterien für die Medientheorie ein. In der Architektur werden Theoretiker wie Aldo Rossi ausgegraben, der eine rationalistische, wissenschaftlich fundierte, empirische Architektur als Ausdruck des kollektiven Geistes einforderte. Im Bereich des Theaters und der Literatur erschienen in den vergangenen Jahren vermehrt wieder Manifeste wie Bernd Stegemanns "Lob des Realismus" oder David Shields "Reality Hunger", die sich an postmodernen, apolitischen Metafiktionen und Selbstbezüglichkeiten als Ausdruck neoliberalen Denkens reiben und für die Wiedererweckung aufklärerischer und lebensnaher Kunstpositionen plädieren.

Markus Gabriel formuliert den Ansatz des Neuen Realismus folgendermaßen: "Die Illusion, von welcher der Neue Realismus befreien will, ist die Illusion, dass wir in einem riesigen Täuschungszusammenhang gefangen sind. Denn dies ist nur die Ausrede, die den Fatalismus der Freiheit vorzieht." All jenen Bestrebungen, aus der Sackgasse der Beliebigkeit und dem Karussell der nie enden wollenden Interpretationen zu entkommen, scheint ein aufkeimendes Unbehagen an den realpolitischen Verhältnissen der Gegenwart zu liegen. Wie viel Wirklichkeit braucht Veränderung? Und kann der Neue Realismus einen Schlüssel zu dieser Wirklichkeit liefern?

Service

Maurizio Ferraris: Manifest des neuen Realismus, Klostermann, 2014
Bernd Stegemann: Lob des Realismus, Theater der Zeit, 2015
Markus Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt, Ullstein, 2015
Rainer Leschke: Einführung in die Medientheorie, UTB, 2003
Aldo Rossi: Die Architektur der Stadt: Skizzen zu einer grundlegenden Theorie des Urbanen, Bauwelt, Bd. 41, 2015
Sonja Gangl: Dancing with the End, Albertina, 2013
Karin Fleischanderl: Des Kaisers neue Kleider. Schreiben in Zeiten der Postmoderne, Wespennest, 1994
Thomas Stangl: Regeln des Tanzes, Droschl, 2013
Martin Amanshauser: Der Fisch in der Streichholzschachtel, Deuticke, 2015
Rosemarie Poiarkov: Eine CD lang, Liebesgeschichten, Zsolnay, 2001
David Shields: Reality Hunger. Ein Manifest. C.H. Beck, 2011
Alain Robbe-Grillet: Argumente für einen neuen Roman, Hanser, 1965

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Gestaltung

  • Johannes Gelich