Szene aus Frank Wedekinds "Lulu"

AFP/PATRICK HERTZOG

Gedanken für den Tag

Cornelius Hell über Frank Wedekind

"Der Mensch wird abgerichtet, oder er wird hingerichtet" - Zum 100. Todestag von Frank Wedekind beleuchtet der Theologe, Literaturkritiker und Germanist Cornelius Hell die "umstrittenen" Themen in Wedekinds Werk. - Gestaltung: Alexandra Mantler

Frank Wedekinds Lulu ist eine der interessantesten und besonders vielschichtigen Frauenfiguren des Theaters, die bis heute für Kontroversen sorgt. Es ist so leicht, sie als selbstbestimmte Frau zu glorifizieren, nur weil sie beim Sex ebenso egoistisch ist wie die Männer und sich holt, was sie will. In der Eröffnungsszene ist sie mit Medizinalrat Dr. Goll verheiratet, der sie beim Kunstmaler Schwarz porträtieren lässt. Dort ist auch ihr Liebhaber, der Chefredakteur Dr. Schön, mit seinem Sohn Alwa. Kaum gehen die Männer zu einer Ballettprobe, lässt sich Lulu mit Schwarz ein. Als Goll die beiden überrascht, erliegt er einem Herzinfarkt. Lulu heiratet Schwarz, will aber Schön als Geliebten nicht aufgeben. Als Schwarz davon erfährt, schneidet er sich die Kehle durch.

Über herkömmliche Moralbegriffe setzt sich Lulu, wie Wedekind es formuliert hat, mit "Selbstverständlichkeit, Ursprünglichkeit und Kindlichkeit" hinweg. Am einfachsten ist es, sie dafür zu verurteilen. Und genauso leicht ist es Lulu dafür zu bemitleiden, dass sie am Schluss in Armut und Elend in London lebt und nur noch als Straßenhure ihr Geld verdienen kann, bis sie von Jack the Ripper getötet wird. Aber Lulu taugt nicht zur simplen Opfer-Figur, denn immerhin hat sie ein Vermögen verprasst, und die Männer haben unter ihr genug zu leiden.

Aber sie ist auch keineswegs die souveräne Frau, die die Fäden zieht. Sie hatte ja nie die Chance, autonom zu werden - nicht nur materiell und in ihren äußeren Lebensumständen, sondern vor allem emotional. Chefredakteur Schön hat sie als ganz junges Mädchen von der Straße aufgelesen und zu seiner Geliebten gemacht; und sie dann, als er sich standesgemäß verheiraten wollte, an Medizinalrat Goll weitergereicht, für den sie tanzen musste, wie es ihm beliebte. Schon die allererste Szene im Maler-Atelier zeigt Lulu als Objekt der Begierde der Männer. Sie weiß zwar diese Begierde gut zu steuern und auszunutzen, aber sie kann keine Gefühle entwickeln, weil ihr selbst nie welche entgegengebracht wurden. Und der Maler Schwarz vergöttert sie zwar als sein Ein und Alles, aber er versteht sie nicht.

Die Rollen von Mann und Frau haben sich in den letzten hundert Jahren entscheidend verändert - doch Wedekinds Lulu ist heute, am Internationalen Frauentag, noch immer eine produktive Leitfigur um zu entlarven, wie Frauen zum Objekt und Produkt von Männerphantasien gemacht werden.

Service

Frank Wedekind, "Frühlings Erwachen. Eine Kindertragödie", Reclam Verlag 2013
Frank Wedekind, "Lulu. Erdgeist. Die Büchse der Pandora", Reclam Verlag 1999
Frank Wedekind, "Der Marquise von Keith. Schauspiel in fünf Aufzügen", Wallstein Verlag 2018

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Frederic Chopin/1810 - 1849
Gesamttitel: Zwölf Etüden für Klavier op.10
Titel: Etüde op.10 Nr.9 in f-moll für Klavier - Allegro, molto agitato
Solist/Solistin: Maurizio Pollini /Klavier
Länge: 02:00 min
Label: DG 4137942

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