Zwischenruf

Herbert Beiglböck über Sozialstaat und Gesellschaft

"Geschichten von dieser Zeit" - Alle gleich gültig, nichts gleichgültig. Herbert Beiglböck, Caritasdirektor in der Steiermark, darüber, wie die Zusammenarbeit von Sozialstaat und aufmerksamer Zivilgesellschaft funktionieren kann, um Not zu lindern. - Gestaltung: Martin Gross

Anfang dieser Woche war ich vormittags im Grazer Marienstüberl, Mittagstisch und Begegnungsstätte in Graz, die auch Heimat für viele bedrängte Menschen geworden ist. Dort kam ich mit einem jüngeren, gut angezogenen Mann ins Gespräch. Er sagte mir: Vor ein paar Jahren war ich täglich hier. In der Notschlafstelle Arche 38 hab ich gewohnt. Die Beratung der Caritas hat mir aus dem Loch geholfen. Ich habe jetzt Arbeit als Software-Entwickler und lebe in einer eigenen Wohnung. Aber jeden Montag komme ich hierher und spiele mit einem Bekannten von damals Schach." Das ist eine aus dem Caritas-Alltag gegriffene Geschichte von dieser Zeit. Sie erzählt davon, wie schwierig das Leben sein kann - und wie sich auch alles wieder fügen kann. Wie das Schöne Leben auch für jemanden wieder zugänglich wird, der - aus welchen Gründen auch immer - aus der Bahn geworfen wurde.

Die Schönheit des Lebens hat Franz von Assisi in seinem Lobgesang "Laudato si" besungen. Diese Hymne eines reich geborenen Mannes, der den anderen Weg gewählt und bewusst die Armut gesucht hat, erinnert daran, "dass unser gemeinsames Haus wie eine Schwester ist, mit der wir das Leben teilen". Diese wunderbare Beschreibung steht wiederum am Beginn der Enzyklika "Laudato si" von Papst Franziskus. Und Papst Franziskus schreibt weiter: "Nichts von dieser Welt ist für uns gleichgültig."

Daran muss ich oft denken, wenn ich als Caritasdirektor in Einrichtungen unterwegs bin. Nichts darf uns gleichgültig sein. Als Caritas sind wir dort tätig, wo der Staat nicht oder nicht mehr hinreicht. Ich halte den Sozialstaat nach wie vor für eine Errungenschaft, in dem auch wesentliche Impulse der katholischen Soziallehre realisiert sind: Das sind die Forderungen nach Ausgleich und nach einem System, das jene stützt, die schwächer sind. Aber auch das bestausgebaute Sozialsystem hat blinde Flecken und Lücken. Dort geht die Caritas hin. Denn: "Nichts von dieser Welt ist für uns gleichgültig".

In diesem Sinne stellt das Tun der Caritas eine fundamentale Frage: In was für einem Land möchten wir leben, welche Gesellschaft wollen wir haben? Wie sieht ein Staat, wie sieht eine Gesellschaft aus, in der nichts gleichgültig ist? Da geht es um Aufmerksamkeit für die schlecht ausgeleuchteten Ecken und die stillen Winkel in diesem gemeinsamen Haus. In Österreich sind wir gerade wirtschaftlich sehr gut gestellt, die Wirtschaft wächst, die Zahlen zur Arbeitslosigkeit entwickeln sich erfreulich. Und dennoch gibt es diejenigen, die an dieser guten Entwicklung keinen Anteil haben. Weil sie vielleicht eine gesundheitliche Belastung haben, die es ihnen nicht möglich macht, eine reguläre Arbeitsstelle auszufüllen.

Gerade weil wir so erfolgreich unterwegs sind, haben wir eine besondere Verantwortung für die Schwächeren. Das gilt für den Staat, und es gilt für die Gesellschaft. Verantwortung dafür zu übernehmen, auch denen die Teilhabe an diesem guten Leben zu ermöglichen, die am Rand stehen. Dazu braucht es Solidarität - in den staatlichen Strukturen, etwa mit einem gestützten Arbeitsmarkt. In der Gesellschaft, wo Einzelne aufmerksam sind und sich zusammenschließen in Initiativen, Pfarren und NGOs.

Zu dieser Solidarität gehört auch, auf die Tonlage zu achten, in der Debatten geführt werden. Ich schließe mich Markus Hinterhäuser an, dem Intendanten der Salzburger Festspiele, der kürzlich sagte: "Wir merken ja schon fast nicht mehr, auf welche Hartherzigkeit unsere Welt zusteuert." Das ist in meinen Augen eine Mahnung, dass wir uns von Not und Einsamkeit berühren lassen. Solidarität heißt dann, unsere Empathiefähigkeit auszubauen. Es geht ums Hinschauen. Und es geht ums Hinhören. Denn Not drängt sich nicht auf. Armut ist leise. Es geht dann auch darum, wie wir sprechen - miteinander und übereinander.

Ein Leben, in dem nichts gleichgültig ist, braucht einen offenen, demokratischen Staat, in dem die Menschen gehört werden. Und dieser Staat braucht eine offene, aufmerksame Zivilgesellschaft, Menschen, die Nöte wahrnehmen und mit vereinten Kräften dafür sorgen, dass alle gleich viel gelten, ob sie sich äußern können oder nicht. Und diese Zivilgesellschaft muss wieder vom Staat gehört werden. Dann haben wir eine Chance, diesen Appell mit Leben zu füllen: Nichts auf dieser Welt ist uns gleichgültig.

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