Gedenkstein

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Gedanken für den Tag

Wolfgang Müller-Funk über Gerechtigkeit

"Die vielen Gesichter der Gerechtigkeit". In der Woche des Ö1 Schwerpunkts "100 Jahre Erste Republik" macht sich der Literatur- und Kulturwissenschafter Wolfgang Müller-Funk "Gedanken für den Tag" über die vielen Gesichter der Gerechtigkeit. - Gestaltung: Alexandra Mantler

In dieser Woche jährt sich zum hundertsten Mal das Ende des Ersten Weltkriegs und die Ausrufung der Ersten Republik. Hundert Jahre österreichische Geschichte, Bürgerkrieg, Diktatur, Inflation, Demokratie und Wirtschaftswunder. Auch hundert Jahre Frauenwahlrecht. Grund genug, über ein Phänomen nachzudenken, das politische Konflikte und Krisen begleitet: Gerechtigkeit.

Es gibt eine jüdische Legende, wonach 36 Gerechte, lamed-waw zadikim, das Fundament der Welt bilden, in der wir leben - eine erstaunliche Geschichte, in der Hoffnung und Skepsis eine unnachahmliche Mischung eingegangen sind. Sie ist hoffnungsvoll, insofern als es nur drei Dutzend Menschen bedarf, um die Welt zu tragen. Nur wegen der Tatsache, dass es wenigstens 36 Menschen gibt, denen das Rechte am Herzen liegt, hat Gott, über die Ungerechtigkeit der Menschen erzürnt, die Welt nicht untergehen lassen. Die Geschichte ist extrem pessimistisch, weil sie davon ausgeht, dass es unter den vielen Menschen, die es schon zum Zeitpunkt des Entstehens dieser Legende gab, so wenige gibt, die die Zuschreibung des oder der Gerechten ohne Einschränkung erfüllen.

Es ist, so besagt die Legende, schwer, sehr schwer, gerecht zu sein, sich selbst und den anderen gegenüber. Sie sagt auch, wie zentral die Gerechtigkeit für den menschlichen Seelenhaushalt ist und wie sehr die Menschen sich nach ihr sehnen. 1916 träumte Max Brod in einem Gedicht davon, eine Stadt "Gerechtigkeit" zu bauen.

Womöglich beruht alle Religion auf der Sehnsucht nach einer Instanz, die gerecht ist, unbeeindruckt von eigenen Interessen und Egoismen. Die Gerechtigkeit hat, wie Hannah Arendt in einem Brief schreibt, mit Edelmut zu tun. Sie ist eine kompromisslose Moralität, die gerade nicht vordergründig moralisiert und das Gegenüber um des eigenen moralischen und politischen Vorteils willen anklagt.

Die Weisen sind namenlos, ihre guten Taten gereichen ihnen nicht zum Vorteil von Lob und Ruhm. Sie selbst wissen nicht einmal, dass sie zu den 36 Gerechten dieser Welt gehören. Selbst in der Epoche der Judenvernichtung, der Shoah, muss es diese paar Handvoll moralisch unbeirrbarer Menschen gegeben haben, die sich von Gerechtigkeit zum Handeln haben an- und verleiten lassen.

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Sendereihe

Gestaltung

Übersicht

Playlist

Komponist/Komponistin: Charles Ives/1874 - 1954
Titel: Sonate für Klavier Nr.2 "Concord, Mass., 1840-1860" f.Viola und Flöte
* The Alcotts - 3.Satz (00:06:15)
Solist/Solistin: Werner Bärtschi /Klavier
Solist/Solistin: Daniel Corti /Viola
Solist/Solistin: Alexandre Magnin /Flöte
Länge: 06:15 min
Label: Ex libris 6057

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