Gedanken für den Tag
Martin Schenk über Alltagsgeschichten
"Hoffnungsträger: Ich bin meine Geschichte". Es muss nicht sein, dass die vielen leisen Stimmen ungehört bleiben und ihre scheinbar banalen Lebensläufe missachtet werden, meint Martin Schenk, Sozialexperte der evangelischen Hilfsorganisation Diakonie und Blues-Fan. - Gestaltung: Alexandra Mantler
28. Dezember 2018, 06:56
Die Narbe. Harry Potter trifft Leonard Cohen
Eine blitzförmige Narbe steht auf Harry Potters Stirn. Die Verletzung wurde ihm als Baby zugefügt, als Voldemort, der mächtige dunkle Lord, ihn zu töten versuchte. Diese Narbe schmerzt Harry noch immer, und sie erinnert ihn beständig an seine Mutter, die starb als sie sich schützend vor ihr Baby warf.
Die Narbe sagt, du bist verletzlich. Kein Panzer auf zwei Beinen. "Du brauchst dich für das, was du fühlst, nicht zu schämen. Im Gegenteil, die Tatsache, dass du Schmerz wie diesen empfindest, ist deine größte Stärke", so versucht der Leiter der Zauberschule, Professor Dumbledore, Harry zu ermutigen, seinen Schmerz zuzulassen. Harry ist kein unverwundbarer Superheld, sondern verletzlich. Und was er schafft, erringt er mit der Hilfe anderer. Da sind seine Freunde Ron und Hermine, da ist der tiefe Gedanke an seinen Vater, der ihm einen Beschützer gegen die totbringenden Dementoren schickt, da ist seine Mutter, deren liebendes Vermächtnis Harry stark macht. Es ist die Qualität von Harrys persönlichen Beziehungen, denen er seine Fähigkeiten verdankt.
"Du bist verletzlich", sagen auch die großen Menschheitsgeschichten. Die Achillesferse erinnerte den griechischen Kämpfer Achilles daran, und trotz Bad im Drachenblut fiel Siegfried das Lindenblatt auf die verletzliche Schulter. Oder die Geschichte vom Baby in einem Stall - stark und zerbrechlich zugleich.
Unverwundbarkeit ist gar nicht möglich und zu wünschen ist sie auch nicht. Unverletzlichkeit birgt die Gefahr der Gnadenlosigkeit in sich. Wer selbst verletzlich ist, kann auch die Verwundbarkeit des anderen wahrnehmen. Der große Songwriter Leonard Cohen hätte beim Blick auf Harry Potters Narbe wohl mit seinen berühmten Liedzeilen geantwortet: "Forget your perfect offering / There is a crack in everything / That's how the light gets in." Es sind die Risse, durch die das Leben hereindringt.
Service
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Sendereihe
Gestaltung
Playlist
Komponist/Komponistin: Leonard Cohen
Bearbeiter/Bearbeiterin: Leonard Cohen, Rebecca De Mornay, Yoav Goren (Arrangement)
Album: THE FUTURE
Titel: Anthem
Solist/Solistin: Leonard Cohen /Gesang m.Begl.
Chor: The LA Mass Choir
Leitung: Directed By [Choir Director] - Donald Taylor
Länge: 06:07 min
Label: Columbia 4724982