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Wie viele Regeln braucht der Mensch?

Sinn und Unsinn von Vorschriften (1).
Gestaltung: Daphne Hruby

"Früher litten wir an Verbrechen, heute an Gesetzen". Diese Einschätzung traf der römische Historiker Tacitus schon um das Jahr 100 herum. Auch heute beobachten viele, einen regelrechten Verordnungswahn um sich greifen. Für jede noch so kleine soziale Interaktion braucht es neuerdings eine Vorschrift - so ihre Kritik. Und tatsächlich werden laufend Regeln für das gesellschaftliche Miteinander erlassen. Das Essverbot, das seit 2019 in allen Wiener U-Bahnen gilt, ist nur ein Exempel dafür.

Manche Regeln haben durchaus Sinn, andere wieder orientieren sich bloß am gesellschaftspolitischen Stimmungsbarometer.

Mit der zunehmenden Verregelung des Alltags steht Österreich keineswegs alleine da. In Singapur darf man seit 1992 keinen Kaugummi mehr kauen. Die USA gelten überhaupt als Mekka für Vorschriftsfanatiker. In der Stadt Kennesaw sind die Menschen beispielsweise gesetzlich verpflichtet eine Waffe zu besitzen.

Jeder Zeit und Gesellschaft ihre Regeln des Zusammenlebens. Transportiert werden diese über die Erziehung - sei es nun im familiären Rahmen oder in Bildungseinrichtungen - und das soziale Umfeld. Konventionen sind dabei keineswegs in Stein gemeißelt - das gilt auch für ihre Tragweite. Das Richtschnurkorsett wird teils schon im Säuglingsalter übergestreift. Die Bücherregale biegen sich unter Ratgebern mit Titeln wie "Zehn Regeln zum Wunderkind". Andere wieder lassen ihrem Nachwuchs so ziemlich alles durchgehen - im Fachjargon Laissez-faire-Erziehung genannt.

Gesellschaften, die einem besonders restriktiven Regelkatalog unterworfen sind, eignen sich als perfekter Nährboden extremistischen Gedankenguts. Gleichzeitig werfen Gemeinschaften, die von sich behaupten mit gängigen Hierarchien oder Regeln zu brechen, diesen Grundsatz teils recht schnell über Bord - wie die Entwicklung diverser Sekten vor Augen führt.

Die persönliche Freiheit und das kollektive Bedürfnis nach Prosperität und Sicherheit, können teils in heftigen Widerspruch geraten. Aber würden wir uns ohne Gesetze wirklich alle die Köpfe einschlagen? Eine Studie der MedUni Wien ergab, dass sich Personen auch ohne vorgegebene Regeln großteils sozial verhalten und untereinander einen eigenen Verhaltenskodex entwickeln. Andererseits haben Untersuchungen wie das "Milgram-Experiment" gezeigt, dass Menschen unter gewissen Bedingungen auch recht schnell bereit sind, anderen Leid zuzufügen - vorausgesetzt sie erhalten den Befehl beziehungsweise glauben sich damit an die geltenden rechtlichen wie ethischen Normen zu halten.
Überall wo Menschen zusammentreffen, entwickeln sie bestimmte Spielregeln - sei es nun die Sitte am Arbeitsplatz oder der Putzplan in einer Wohngemeinschaft.

Woher kommt das Bedürfnis nach Regeln? Welchen Nutzen haben Gesetze, Verordnungen und Konventionen? Und was bedeutet es für das ethische Miteinander, wenn man plötzlich für jede Interaktion eine Vorschrift braucht?

Service

"Digitale Ethik: Ein Wertesystem für das 21. Jahrhundert" von Sarah Spiekermann-Hoff. Erschienen 2019 im "Droemer Verlag".

"Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie" von Max Weber. Neuauflage erschienen 2002 im "Mohr Siebeck-Verlag".

"Studies in Ethnomethodology" von Harold Garfinkel. Erschienen 1967 im "Prentice-Hall"-Verlag.

"Nackt duschen streng verboten: Die verrücktesten Gesetze der Welt" von Roman Leuthner. Erschienen 2009 im "Bassermann-Verlag".

"Christliche Rituale im Wandel: Schlaglichter aus theologischer und religionswissenschaftlicher Sicht" von Hans Gerald Hödl, Johann Pock und Teresa Schweighofer. Erschienen 2017 im "Vienna University Press, V&R"-Verlag.

"Der wichtige Andere: Soziale Vergleichsprozesse und relative Deprivation" von Katja Corcoran und Thomas Mussweiler in: "Sozialpsychologie: Interaktion und Gruppe" von D. Frey & H.-W. Bierhoff (Hg.). Erschienen 2011 im "Hogrefe-Verlag".

"Jedes Kind kann Regeln lernen" von Annette Kast-Zahn. Erschienen 2013 im "Gräfe und Unzer Verlag".

Studie: "Would You Deliver an Electric Shock in 2015? Obedience in the Experimental Paradigm Developed by Stanley Milgram in the 50 Years Following the Original Studies" von Tomasz Grzyb, Dariusz Dolinski, und Micha Folwarczny. Erschienen 2017 in: "Social Psychological and Personality Science", Vol. 8, no. 8, pp. 927-933.

Studie: "Social dynamics in a large-scale online game" von Stefan Thurner und Michael Szell

Studie: "Complex societies precede moralizing gods throughout world history" von Harvey Whitehouse, Pieter François, Patrick E. Savage, Thomas E. Currie, Kevin C. Feeney, Enrico Cioni, Rosalind Purcell, Robert M. Ross, Jennifer Larson, John Baines, Barendter Haar, Alan Covey und Peter Turchin. Erschienen im April 2019 in "Nature" Vol. 568:


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  • Daphne Hruby