"Flora" von Giuseppe Arcimboldo

APA/ROLAND SCHLAGER

Radiokolleg - Im Antlitz

Die vielen Seiten des Gesichts (2). Gestaltung: Daphne Hruby

Eine Zehntelsekunde - nur so lange brauchen wir, um vom Gegenüber einen ersten Eindruck zu bekommen. Ist er attraktiv, ist sie sympathisch, ist der Mensch interessant oder gefährlich - gewonnen wird diese Information vor allem aus unserem Gesicht. Treue, Intelligenz, soziale Herkunft - die Palette, was Studien alles aus unserem Antlitz zu lesen glauben, ist breit.

Der Schweizer Pfarrer und Philosoph Johann Kaspar Lavater war fest davon überzeugt, dass die Gesichtszüge den Charakter eines Menschen widerspiegeln und schrieb dazu 1775 auch einen "wissenschaftlichen" Leitfaden. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts war "Ausdruckskunde" fixer Bestandteil des Lehrplans vieler Universitäten.
Kein Wunder also, dass Menschen schon in prähistorischer Zeit alles daran setzten ihr Gesicht zu verschönern. Auf Höhlenmalereien in Spanien und Frankreich sind geschminkte Frauen zu sehen. Heute ist die Kosmetikindustrie ein Milliardengeschäft. Hinzu kommen mehr als 23 Millionen Schönheitsoperationen. Längst legen sich nicht mehr nur Frauen unters sprichwörtliche Messer.

Plastische Eingriffe können Menschen aber auch aus gesellschaftlicher Stigmatisierung helfen. Unfälle, Tumore oder Erkrankungen wie Noma - eine bakterielle Infektion, bei der sich große Löcher ins Gesicht fressen - sobald das Gesicht betroffen ist, werden Betroffene schief angeschaut und teils sogar ausgestoßen.

Schönheit ist aber nicht immer das Ziel. In der Kunst- und Theaterwelt werden die mehr als 26 Gesichtsmuskeln in alle Himmelsrichtungen gespannt, gestreckt und gezogen. Manche Fratze lässt sich dann aber doch nur mit gewissen Hilfsmitteln perfektionieren. Masken kommen dabei nicht nur auf der Bühne zum Einsatz. Um Schaden abzuwenden oder das Gegenüber abzuschrecken, wurden und werden sie in Ritualen aber auch auf dem Schlachtfeld in allen Formen und Farben übergestreift.

Physiologisch sind alle menschlichen Gesichter gleich aufgebaut - dennoch ist jedes einzigartig und zugleich sehen wir uns aber auch wieder ähnlich. Große Augen, kleine Nase, dunkler Teint - die jeweiligen Witterungsverhältnisse und Lebensbedingungen haben ihre Spuren hinterlassen.

Unser Antlitz wird aber nicht nur in zwischenmenschlichen Interaktionen erfasst. Modernste Gesichtserkennungssoftwares folgen uns heute auf Schritt und Tritt. Am Pekinger Himmelstempel müssen sich Besucherinnen und Besucher vor einem Toilettengang per Gesichtsscan authentifizieren. Dies soll angeblich Klopapierdiebstahl vorbeugen. In Großbritannien werden Menschen schätzungsweise 70 Mal am Tag von Überwachungskameras aufgezeichnet. Die Londoner Polizei setzt Gesichtserkennungssoftware auch zur Kriminalitätsbekämpfung ein. Kritiker bemängeln dabei nicht nur Verstöße gegen die Menschenrechte sondern auch die hohe Fehlerquote des Systems - die liegt nämlich bei 81 Prozent

Service

LITERATUR- UND LINKLISTE:

"Faces: Eine Geschichte des Gesichts" von Hans Belting. 2. Auflage erschienen 2014 im C.H.Beck-Verlag.

"Mimikresonanz: Gefühle sehen. Menschen verstehen" von Dirk W. Eilert. Erschienen 2013 im Junfermann Verlag.

"Unmasking the Face: A guide to recognizing emotions from facial expressions" von Paul Ekman und Wallace V. Friesen. Erschienen 2003 im Malor Books-Verlag.

"Infants' object processing is guided specifically by social cues" von Stefanie Höhl, Christine Michel, Caroline Wronski, Sabina Pauen und Moritz M Daum. Erschienen am 18. März 2019 in der Fachzeitschirft "Neuropsychologia".

"The Neurobehavioral and Social-Emotional Development of Infants and Children" von Edward Tronick. Erschienen 2007 in der Reihe "Norton Series on Interpersonal Neurobiology" im W. W. Norton & Company-Verlag.

Noma Hilfe Österreich

Blog von Harald Kubiena

"Gesichtserkennung oder der etwas andere Sinn des Menschen" von Kerstin Kreutz und Marcel A. Verhoff

"Independent Report on the London Metropolitan Police Serve's Trial of Live Facial Recognition Technology" von Pete Fussey und Daragh Murray

"Übermacht im Netz: Warum wir für ein gerechtes Internet kämpfen müssen" von Ingrid Brodnig. Erscheint am 16. September 2019 im Brandstätter-Verlag.

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  • Daphne Hruby