
ORF/ROMAN TSCHIEDL
Gedanken für den Tag
Cornelius Hell über die Republik Moldau
"Zwischen Pruth und Dnister". Reiseeindrücke von Cornelius Hell, Literaturkritiker und Übersetzer. Gestaltung: Alexandra Mantler
17. Oktober 2019, 06:56
Ein Mann küsst eine Ikone wie ein erotisch Besessener, vor und nach ihm hält eine Frau ihre Stirn an die Ikone. Rund um mich wildes und ununterbrochenes Kreuzschlagen, ständig fällt jemand auf die Knie.
Ich stehe in einer orthodoxen Kirche in der moldawischen Hauptstadt Chisinau und bin ziemlich ratlos. Ich war in etlichen orthodoxen Kirchen in mehreren Ländern, aber eine so geradezu öffentlich ausgestellte und auf mich hektisch wirkende Frömmigkeit habe ich noch nie erlebt. Schon am Eingang hat ein sehr modern angezogener junger Mann eine Ikone geküsst; "Bekreuzigungsgefuchtel" schreibe ich irritiert in mein Notizbuch.
Irritiert bin ich, weil ich das Gefühl habe, hier wird eine Schamgrenze verletzt, ich werde Zeuge von etwas, was besser intim bleiben sollte. Oder bin ich, aus dem Katholizismus kommend, einfach unfähig, dieses sinnliche Verhältnis zu Bildern, zu den Ikonen, und den Überschwang der Gesten zu verstehen?
Ich erfahre jedenfalls: 93 Prozent der Moldawier gehören einer der orthodoxen Kirchen an, und nur ein Prozent ist areligiös. Die christlichen Traditionen sind vielfältig und stark, und es gibt viele bedeutende Klöster; leider reicht meine Zeit nicht, um eines zu besuchen.
Eine große Wunde des Landes ist, dass die Juden nicht einmal mehr ein Prozent der Bevölkerung ausmachen - dabei ist das Judentum tief in der Geschichte Moldawiens verwurzelt. Der Holocaust war hier besonders brutal - und ist nahezu vergessen.
Das alles fällt mir ein, während ich in dieser orthodoxen Kirche stehe und die mir fremden individuellen, aber offenbar doch sehr standardisierten Rituale beobachte. Die inständigen und auch verzweifelten Gebete, die nicht nur in Worten, sondern mit dem ganzen Körper ausgedrückt werden, spiegeln auch die triste Situation im Land wider. Lehrt die Not hier noch beten?
Mir graut vor religiösen Ideologen, die sich darüber freuen. Aber ich freue mich, dass die Not starke und intensive religiöse Ausdrucksformen findet und nicht stumm bleibt. Ich kann sie nicht nachvollziehen oder gar mitmachen, aber ich spüre darin die Kraft einer Hoffnung, die sich nicht unterkriegen lassen will.
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Sendereihe
Gestaltung
Übersicht
- Nebenan: Moldau
Playlist
Komponist/Komponistin: Traditional
Bearbeiter/Bearbeiterin: Wieslaw Pipczynski /Arrangement
Album: POURQUOI, MADAME ?
Titel: Bessarabische Hora/instr.
Ausführende: Prima Carezza /Instrumental
Ausführender/Ausführende: Michaela Paetsch Neftel /Violine
Ausführender/Ausführende: Klaus Neftel /Violine
Ausführender/Ausführende: Wieslaw Pipczynski /Akkordeon
Länge: 02:36 min
Label: Tudor 7160