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Radiokolleg - Der Exzess
Faszinosum und Bedrohung von Grenzüberschreitungen (1). Gestaltung: Thomas Mießgang
17. Februar 2020, 09:05
In Lexika wird der Exzess als "Überschreitung von Grenzen beschrieben", als "Ausschweifung" und als "Maßlosigkeit". Der Exzess verlässt also die statistisch erhobenen gesellschaftlichen Mittelwerte, man könnte auch sagen: das Mittelmaß, um an den extremen Enden der Seinsbedingungen radikale existentielle Möglichkeiten in ihrer Tiefe und Grenzwertigkeit auszuloten. Der Exzess ist ein ständiges Faszinosum, aber auch eine Bedrohung. Viele fürchten und meiden ihn und richten sich in den "safe houses" umfassend kontrollierter und abgesicherter gesellschaftlicher Umgebungen ein. Andere wiederum werfen sich ihm auf eine Weise in die Arme, dass sie daran zuschanden gehen. Die Liste von Popstars, Schriftstellern, Künstlern, die ihr Leben dem Exzess geopfert haben, ist lang und wird immer noch fortgeschrieben: Jimi Hendrix, Janis Joplin, River Phoenix, Malcolm Lowry, Charlie Parker, Amy Winehouse und so weiter. Charles Baudelaire hat für den exzessiven Gebrauch toxischer Substanzen den Begriff "künstliche Paradiese" geprägt und sie als "Mittel, die Individualität zu steigern" angepriesen.
Doch der Exzess ist nicht nur an Künstlermilieus gekoppelt, sondern wird auch in ganz anderen gesellschaftlichen Sektoren angesteuert: Die Rekordsucht im kommerziell ausgerichteten Leistungssport hat dazu geführt, dass Dopingexzesse mittlerweile fast schon achselzuckend als selbstverständliches Begleitrauschen zur Kenntnis genommen werden, die Exzesse eines mehrheitlich deregulierten Finanzkapitalismus haben die globale Ökonomie in Schräglage gebracht.
Und wenn der Begriff ein wenig weiter gefasst wird, enthält er auch die Revolution/ den Krieg als Exzess des Politischen, sowie das vor allem seit dem Mittelalter zelebrierte Phänomen des Faschings, bei dem sich eine gesellschaftliche "Umwertung der Werte" vollzieht, und der "Karnevalismus", wie er vom russischen Philosophen Michail Bachtin definiert wurde, Autoritäten und Herrschaftspraktiken herausfordert.
Der französische Theoretiker Gilles Lipovetsky wiederum spricht im Hinblick auf eine durch Formenexzesse - Hypermarkt, Hypertext, hunderte von Fernsehkanälen, Milliarden von Websites - gekennzeichnete mediale Gegenwart von "Hypermoderne", die häufig den Charakter einer Zivilisationskrise annehme und zu einer extremen Fragilität des Individuums führen könne.
Der Exzess ist also, sowohl in seiner historischen und kulturgeschichtlichen Tradition, wie auch in seiner durch Mediatoren wie Club-DJs oder Influencer/innen vermittelten digitalen Gegenwart ein ständiges Ferment gesellschaftspolitischer Entwicklungsprozesse und hat einen janusköpfigen Charakter: In gewisser Weise benötigt das Individuum den Exzess, um seine eigenen Möglichkeiten und Grenzen auszutesten; erst die Grenzüberschreitung vermittelt die Kenntnis vom eigenen Maß und von den Bedingungen und Grenzen des Existenz. In diesem Sinne darf man sich - cum grano salis - auch heute noch an einer Parole von Charles Baudelaire orientieren: "Berauscht euch!
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- Thomas Mießgang