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Gedanken für den Tag
Cornelius Hell über Paul Celan
"Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm". Der Literaturkritiker und Übersetzer Cornelius Hell anlässlich des 100. Geburtstages von Paul Celan
25. November 2020, 06:56
"Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,
niemand bespricht unsern Staub.
Niemand."
So beginnt Paul Celans "Psalm" aus dem Gedichtband "Die Niemandsrose". Celan kommt aus dem deutschsprachigen Judentum der altösterreichischen, in seinem Geburtsjahr 1920 rumänischen und heute ukrainischen Stadt Czernowitz. Doch die Bar Mitzwa, mit der ein dreizehnjähriger Jude ins Erwachsenenleben tritt, ist das letzte Ereignis seiner Biografie, das in ungebrochenem Zusammenhang mit der jüdischen Religion steht.
Aber nach der Ermordung der Eltern, seinem Überleben des Arbeitslagers und der Flucht vor der sowjetischen Okkupation nach Bukarest waren ihm die Gesänge der jüdischen Liturgie kostbar. 1947 floh Celan vor der kommunistischen Machtergreifung in Rumänien nach Wien - es war ein gefährliches Unterfangen mit bezahlten Fluchthelfern, wie es heute für viele Menschen ein letzter Ausweg ist. 1948 ging Celan nach Paris, wo er sich in den 1950er Jahren intensiv mit dem Judentum auseinandersetzte.
Der Gedichtband "Die Niemandsrose" ist eine Frucht dieser Auseinandersetzung, und schon die ersten Zeilen des "Psalms" greifen die biblische Schöpfungserzählung auf. Doch anstatt Gott ist hier "Niemand" am Werk. Und es sind die ermordeten Juden, die sagen:
"Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,
niemand bespricht unsern Staub.
Niemand."
Unvermittelt wendet sich diese Absage an die Bibel zu einem Gebet:
"Gelobt seist du, Niemand.
Dir zulieb wollen
wir blühn.
Dir
entgegen.
Ein Nichts
waren wir, sind wir, werden
wir bleiben, blühend:
die Nichts-, die
Niemandsrose."
Um dieses paradoxe Gebet zu verstehen, hält der Wiener Theologe Jan-Heiner Tück in seinem Celan-Buch mit dem Titel "Gelobt seist du, Niemand" fest: Die Rose ist ein altes Bild für die jüdische Gemeinde und die Gleichsetzung von Gott und Niemand hat in der jüdischen wie in der christlichen Mystik eine Tradition.
Am Schluss bringt das Gedicht das Leiden der Juden in Zusammenhang mit der Passion Jesu, mit seinem Purpurmantel und der Dornenkrone:
"Mit
dem Griffel seelenhell,
dem Staubfaden himmelswüst,
der Krone rot
vom Purpurwort, das wir sangen
über, o über
dem Dorn."
Service
Paul Celan, "Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe", Suhrkamp Verlag
Paul Celan, "etwas ganz und gar Persönliches. Briefe 1934-1970", Ausgewählt, herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann, Suhrkamp Verlag
Thomas Sparr, "Todesfuge. Biographie eines Gedichts", Deutsche Verlags-Anstalt
Wolfgang Emmerich, "Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen", Wallstein Verlag
Hans-Peter Kunisch, "Todtnauberg. Die Geschichte von Paul Celan, Martin Heidegger und ihrer unmöglichen Begegnung", Deutscher Taschenbuch-Verlag
Michael Eskin, "Schwerer werden. Leichter sein. Gespräche um Paul Celan. Mit Durs Grünbein, Gerhard Falkner, Aris Fioretos und Ulrike Draesner", Wallstein Verlag
Klaus Reichert, "Erinnerungen und Briefe. Paul Celan", Suhrkamp Verlag
Jan-Heiner Tück, "Gelobt seist du, Niemand. Paul Celans Dichtung - eine theologische Provokation", Herder Verlag
Irene Fußl, "Geschenke an Aufmerksame. Hebräische Intertextualität und mystische Weltauffassung in der Lyrik Paul Celans", Verlag de Gruyter
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Sendereihe
Gestaltung
Übersicht
Playlist
Komponist/Komponistin: Erik Satie/1866 - 1925
Album: Klaviermusik von Erik Satie
* Gymnopedie Nr.1 : Lent et douloureux (00:03:20)
Titel: GYMNOPEDIES für Klavier Nr.1 - 3
Solist/Solistin: Yitkin Seow /Klavier
Länge: 03:20 min
Label: Hyperion CDA 66344