Paul Celan

ÖNB

Gedanken für den Tag

Cornelius Hell über Paul Celan

"Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm". Der Literaturkritiker und Übersetzer Cornelius Hell anlässlich des 100. Geburtstages von Paul Celan

"Wir lagen
schon tief in der Macchia, als du
endlich herankrochst.
Doch konnten wir nicht
hinüberdunkeln zu dir:
es herrschte
Lichtzwang."

Aus diesem Gedicht stammt der Titel von Paul Celans letztem, in seinem Todesjahr erschienenen Gedichtband "Lichtzwang". Das italienische Wort macchia bedeutet Dickicht und ist wie seine französische Entsprechung maquis zum Synonym für den Partisanenkampf im Zweiten Weltkrieg geworden, weil der Buschwald aus Steineichen ein Rückzugsort der Partisanen war.

Mich fasziniert dieses Gedicht durch seinen Gegensatz von Dunkel und Licht. Wir sind es gewohnt, das Licht positiv zu sehen, und sprechen vom Licht der Aufklärung oder ganz alltäglich vom Licht am Ende des Tunnels. Religiös wird das Licht mit der Schöpfung assoziiert oder mit der Auferstehung. Doch seit der Alltag der Menschen immer mehr vom künstlichen Licht geprägt ist, gibt es - beginnend mit der Romantik - in der Literatur auch eine andere Metaphorik von Licht und Dunkel. So wird etwa im bekannten "Abendlied" von Matthias Claudius gerade die Dämmerung gepriesen: "Als eine stille Kammer, / Wo ihr des Tages Jammer / Verschlafen und vergessen sollt."

In Paul Celans Gedicht herrscht Lichtzwang. Das lässt an Foltermethoden denken, an Schlafentzug und an Gefängnisse, in denen das Licht nicht ausgeschaltet wird. Im übertragenen Sinn mag man auch daran denken, dass alles ans Licht gezerrt wird, dass es keinen Raum des Privaten und Intimen mehr geben darf, der vor dem Licht der Öffentlichkeit sicher ist. Für die widerständige Kommunikation - es sprechen ja Partisanen -, die da noch möglich ist, findet das Gedicht den Ausdruck "hinüberdunkeln zu dir".

Auf sehr präzise Weise fragt dieses Gedicht nach wichtigen Koordinaten meines Lebens: Wogegen kämpfe ich und mit wem? Welcher Lichtzwang herrscht und von wem geht er aus? Und zu wem kann ich hinüberdunkeln? Darum lässt dieses Gedicht mich nicht los:

"Wir lagen
schon tief in der Macchia, als du
endlich herankrochst.
Doch konnten wir nicht
hinüberdunkeln zu dir:
es herrschte
Lichtzwang."

Service

Paul Celan, "Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe", Suhrkamp Verlag
Paul Celan, "etwas ganz und gar Persönliches. Briefe 1934-1970", Ausgewählt, herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann, Suhrkamp Verlag
Thomas Sparr, "Todesfuge. Biographie eines Gedichts", Deutsche Verlags-Anstalt
Wolfgang Emmerich, "Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen", Wallstein Verlag
Hans-Peter Kunisch, "Todtnauberg. Die Geschichte von Paul Celan, Martin Heidegger und ihrer unmöglichen Begegnung", Deutscher Taschenbuch-Verlag
Michael Eskin, "Schwerer werden. Leichter sein. Gespräche um Paul Celan. Mit Durs Grünbein, Gerhard Falkner, Aris Fioretos und Ulrike Draesner", Wallstein Verlag
Klaus Reichert, "Erinnerungen und Briefe. Paul Celan", Suhrkamp Verlag
Jan-Heiner Tück, "Gelobt seist du, Niemand. Paul Celans Dichtung - eine theologische Provokation", Herder Verlag
Irene Fußl, "Geschenke an Aufmerksame. Hebräische Intertextualität und mystische Weltauffassung in der Lyrik Paul Celans", Verlag de Gruyter


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Sendereihe

Gestaltung

Übersicht

Playlist

Komponist/Komponistin: Erik Satie/1866 - 1925
Album: Satie : Vol.3 - Frühe Klavierstücke
Titel: Danse de travers Nr.2 (tw. 2x gespielt)
Gesamttitel: Pieces froides für Klavier Nr.2 - Trois danses de travers
Solist/Solistin: Reinbert de Leeuw /Klavier
Länge: 01:25 min
Label: Philips 420473-2

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