Zuschreibung: "Parallelgesellschaft"?

18. Jänner 2021, 13:00

Mit nacktem, tätowiertem Oberkörper, einer Fellkappe mit Büffelhörnern auf dem Kopf, einem Speer mit der US-Flagge in der Hand und bemaltem Gesicht posiert ein Mann im Herz der US-Demokratie - das Bild, am 6. Jänner 2021 beim Sturm auf das Kapitol entstanden, geht um die Welt.

Die Unruhen gehen weiter und international sind sich Beobachter einig: "Der Mob aus den Paralleluniversen", wie beispielsweise das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel schrieb, ist mehr als eine Gruppe von Verschwörungstheoretikern - es sei eine terroristische Bedrohung mit über einer Million Anhängerinnen und Anhängern, die schwer bewaffnet sind und auf einen Krieg gegen den "Tiefen Staat" hoffen. Eine Parallelgesellschaft sei entstanden, die das Misstrauen gegen "die Mehrheit" eint.

Parallelwelten existieren in allen Gesellschaftsschichten, vom Reichenviertel über die "Reichsbürger" zu den Clans oder "Problemvierteln" an den Rändern von Großstädten wie beispielsweise in Frankreich. Doch die vielfach und vor allem in Wahlkämpfen zitierte Diagnose "Parallelgesellschaft" wird fast ausschließlich für ethnische Gruppen, meist als Sinnbild für die Probleme von Migration und Integration und politisch gern als Warnsignal verwendet. In Österreich wird die Entstehung von Parallelgesellschaften immer wieder von Politikerinnen und Politikern befürchtet; zuletzt beispielsweise im Rahmen des "Sicherheitsgipfels" am 12. Jänner nach den Krawallen in der Silvesternacht in Wien-Favoriten.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind überzeugt, dass der Begriff einer sachlichen Debatte, wie sich in einer vielfältigen Gesellschaft zusammenleben lässt, nichts Sinnvolles beitragen kann, im Gegenteil - im Alltagsgebrauch bleibt meist völlig unklar, was damit gemeint sein soll, es gibt keine Definition, und die eigentlichen Herausforderungen und Probleme werden nicht thematisiert.

Migration und Integration sind unter anderem Arbeitsschwerpunkte der Soziologin Julia Dahlvik, die an der Fachhochschule Campus Wien forscht und lehrt und mehrere Jahrbücher zum Stand der Migrations- und Integrationsforschung in Österreich mitherausgegeben hat.

Aus einer anderen Perspektive betrachtet Teresa Hiergeist den Begriff und das Konzept der "Parallelgesellschaft": die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin forscht unter anderem zu ästhetischen und kulturellen Bedeutungen von Parallel- und Alternativgesellschaften, zu ihrer Instrumentalisierung und Inszenierung in Politik, Kultur und Literatur. Zu diesem Thema erscheint im Juli bei De Gruyter der von ihr mitherausgegebene Band "Parallelgesellschaften. Imaginationen - Inszenierungen - Interaktionen". Sie war bis vor kurzem Leiterin des Forschungsnetzwerks Paragesellschaften, das dem abwertenden Begriff der "Parallelgesellschaft" etwas entgegen setzten will, um die vielen Formen paralleler Sozialität als Phänomen der Moderne wertfrei zu beschreiben.

Die beiden Wissenschaftlerinnen sind Gäste bei Barbara Zeithammer und Sie sind herzlich eingeladen, sich an der Sendung zu beteiligen: unter punkteins(at)orf.at oder unter 0800 22 69 79 während der Sendung.

Sendereihe

• Punkt eins

Gestaltung

• Barbara Zeithammer