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Gedanken für den Tag
Ingrid Pfeiffer über Virginia Woolf
"Nur Autobiographie ist Literatur". Die Autorin und Germanistin Ingrid Pfeiffer anlässlich des 80. Todestages von Virginia Woolf
23. März 2021, 06:56
"Wir nahmen uns nie frei", berichtet Leonard Woolf über sein Schriftstellerleben mit Virginia. Diese Beharrlichkeit, mit der sie ihre Tagesabläufe dem Schreiben unterordnete, machte Virginia Woolfs umfangreiches Werk erst möglich. In weniger als 30 Jahren entstanden 10 Romane, bis zu 47 Artikel pro Jahr, ca. 500.000 Wörter Tagbücher und eine rege Korrespondenz mit Familienmitgliedern und Freunden, all das begleitet von teilweise parallel geführten Notizbüchern.
Im Formalen ist Woolfs belletristisches Werk vielfältig und ab dem dritten Roman, "Jakobs Raum" offen für das Experiment; doch nicht Experiment als Selbstzweck, sondern als entsprechender Ausdruck für das jeweils Gegebene, wobei das aktuelle Zeitgeschehen und die eigene Biografie häufig die Anlässe gaben.
Um die Komplexität zumal weiblicher Identität in der Gesellschaft wie in der Kunst ringen viele ihrer Figuren - das gilt besonders für "Die Fahrt zum Leuchtturm" und "Die Wellen", ihrem mir inzwischen wegen seiner Vielstimmigkeit und Poesie liebsten und wichtigsten Roman.
Virginia Woolf war auf Distanz zur Psychoanalyse geblieben und teilte doch hellsichtig viele ihrer Einsichten. Indem sie ihren Romanen den allwissenden Erzähler entzieht und sich auf die (inneren) Stimmen der Figuren verlässt, öffnet sie diesen sowie ihren Leserinnen und Lesern neue Erfahrungsweisen. "Bewusstseinsstrom" war bald der dafür verwendete Begriff.
Die inneren Stimmen waren allerdings auch ein Symptom von Virginia Woolfs Krankheit. Neurasthenie, also Nervenschwäche wurde, typisch für die Zeit, diagnostiziert. Die Krankheitsschübe waren u.a. durch extreme Erschöpfung sowie das Hören von Stimmen gekennzeichnet, als deren Konsequenz sie oft über längere Zeit auf das Schreiben ganz verzichten musste. Und doch: Die luziden Zustände der Krankheit lösten auch das Denken und die Sprache. "Meine Krankheit ist meine Sprache", diagnostizierte sie später selbst.
Service
Klaus Reichert (Hg.), "Virginia Woolf. Gesammelt Werke", 19 Bände, S. Fischer Verlag
Michael Cunningham, "Die Stunden", btb Verlag
Leonard Woolf, "Mein Leben mit Virginia. Erinnerungen", Fischer Taschenbuch
Quentin Bell, "Virginia Wool. Eine Biographie", Suhrkamp Taschenbuch
Hermione Lee, "Virginia Woolf - Ein Leben", Fischer Taschenbuch
Leonard Woolf (Hg.), "A Writer's Diary by Virginia Woolf", The Hogarth Press
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Sendereihe
Gestaltung
Playlist
Komponist/Komponistin: Philip Glass/geb.1937
Vorlage: Michael Cunningham /(Roman 1998, dt. "Die Stunden")
Gesamttitel: THE HOURS / Original Filmmusik
Titel: Morning passages
Untertitel: MUSIC FROM THE MOTION PICTURE
Solist/Solistin: Michael Riesman /Klavier
Leitung: Nick Ingman
Orchester: Filmorchester
Länge: 05:31 min
Label: Nonesuch 7559796932