Wolfgang Rihm

DPA/BERNHARD SCHMITT

Sound Art: Zeit-Ton

Neues vom "allerletzten Großkomponisten"

Wolfgang Rihm und sein "Stabat Mater" mit Christian Gerhaher und Tabea Zimmermann

Eine Singstimme und ein Instrument, mehr ist nicht nötig. Bloß für Bariton und Viola ist Wolfgang Rihms "Stabat Mater" komponiert, das im September 2020 in Berlin uraufgeführt wurde: durch Widmungsträger von hervorragendem Rang, nämlich Tabea Zimmermann und Christian Gerhaher. Zu Mariä Empfängnis am 8. Dezember 2020 haben die beiden das Werk in München nachgespielt, nachgesungen, neu durchlebt - immerhin behandelt die mittelalterliche und seither durch alle Epochen immer wieder vertonte Dichtung den Schmerz Mariens unter dem Kreuz.

Der BR-Mitschnitt dieses Konzerts aus der traditionsreichen Reihe "musica viva" im Prinzregententheater (pandemiebedingt ohne Publikum) steht im Zentrum einer Sendung, die das neue "Stabat Mater" näher beleuchtet und darüber hinaus Schlaglichter auf Rihms jüngeres Schaffen wirft, vor allem mit "Male über Male 2", gespielt vom Klarinettisten Jörg Widmann und Mitgliedern des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks unter Stanley Dodds.

Schon vor zwanzig Jahren wurde er als der "allerletzte Großkomponist" bezeichnet: Wolfgang Rihm trägt es sowohl mit Fassung wie auch mit dem ihm eigenen Format, dieses bedenkenswerte Etikett, das ihm damals der bedeutende Musikpublizist Hans-Klaus Jungheinrich zugedacht hat - womit er den gebürtigen Karlsruher übrigens in die Nachfolge von Hans-Werner Henze einreihte. Rihm, der auf einen Werkkatalog von 500 Einträgen blicken kann, spricht über sich selbst als von einem "grunddefizitären Wesen mit einer großen Begabung - auch begabt zu straucheln". So formuliert er es jedenfalls in einem 2020 veröffentlichten Dokumentarfilm von Victor Grandits, der auf YouTube zu sehen ist - wobei der Originaltitel "Wolfgang Rihm - Das Vermächtnis", der wohl auch wegen Rihms wiederkehrender Krebserkrankung gewählt wurde, für Diskussionen und Kritik gesorgt hat - auch von Rihm selbst.

Für seinen Geschmack ist diese Doku, trotz vieler Szenen liebenswerter Zweisamkeit mit seiner Frau, zu wenig lebensfroh geworden, zu trist und erdenschwer. Denn durch gesundheitliche Einschränkungen lässt sich der Renaissancemensch weder das Komponieren nehmen noch die Freude am Genuss von qualitätsvollen Kalorien und Volumsprozenten. Das hindert Rihm freilich nicht daran, sich auch und gerade in seiner Musik mit Schmerz und Abschied auseinanderzusetzen, jüngst etwa im "Stabat Mater" - denn, so stellt er selbst lächelnd fest: "Das Beginnen, das Sein und das Enden, das ist das Sagen der Musik".

Jahrgang 1952, wurde der Schüler von Fortner, Stockhausen und Klaus Huber Anfang der 1970er zum auffälligsten Vertreter einer jungen Generation, die gegen die Vorgaben der seriellen und postseriellen Schule aufbegehrte: "Uns muss es schütteln vor Energie, oder wir müssen lautlos sein vor Leere, dann sind wir Komponisten", schrieb er emphatisch. In Misskredit geratenen Kategorien wie "Gefühl" und "Innerlichkeit" half der ebenso wortgewaltige wie fleißige Rihm in der Folge mit einer intuitiv-emotional wirkenden Tonsprache wieder auf die Sprünge, die mit besonderer Rücksicht auch auf die ältere Musikgeschichte formuliert war. Etikettierungen wie "Neue Ausdrucksmusik" oder "Neoromantik" tat er freilich stets ab.

Anders als Pierre Boulez, in dessen Schaffen verschiedene Werkfassungen zu einem Ideal als Ziel fortschreiten, generieren bei Rihm ältere Werke und Werkteile oft immer wieder neue, gleichberechtigte "Zustände", in denen Früheres partiell "überschrieben" und in neue expressive Zusammenhänge verwoben wird - etwa im Falle von "Male über Male 2". Im Jahr 2000 als "Vier Male" für Klarinette solo komponiert, kamen drei Jahre später Streicher hinzu und bildeten "Male über Male", bis 2008 daraus "Male über Male 2" für Klarinette und 9 Instrumente wurde: Male als Wiederholungsschritte und Zeichen, das Übermalen als kompositorischer Vorgang. Wolfgang Rihm: "Für mich ist Kunst eine andere Form von Atmung, von Hingabe, von Erschrecken und Umarmung und Schönheit und Furcht, von Erhabenem und Niedrigem in unauflöslicher Mischung."

Gestaltung: Walter Weidringer

Service

YouTube - Wolfgang Rihm - Komponist (SWR Doku)

Sendereihe

Gestaltung

  • Walter Weidringer

Playlist

Komponist/Komponistin: Wolfgang Rihm
Titel: Jagden und Formen
Ausführende: Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Leitung: Franck Ollu
Länge: 08:28 min
Label: EBU

Komponist/Komponistin: Wolfgang Rihm
Titel: Stabat Mater
Ausführende: Tabea Zimmermann
Ausführende: Christian Gerhaher
Länge: 19:07 min
Label: EBU

Komponist/Komponistin: Wolfgang Rihm
Titel: Male über Male 2
Solist/Solistin: Jörg Widmann
Ausführende: Mitgliedern des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks
Leitung: Stanley Dodds
Länge: 17:50 min
Label: EBU

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