Cornelius Hell

Cornelius Hell - ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Gedanken für den Tag

Cornelius Hell über Wolfgang Borchert

"Jesus macht nicht mehr mit". Der Literaturkritiker und Übersetzer Cornelius Hell über den Autor des wichtigsten Theaterstückes der deutschen Nachkriegszeit, anlässlich dessen 100. Geburtstages

Sie sahen ihn schon von weitem auf sich zukommen, denn er fiel auf. Er hatte ein ganz altes Gesicht, aber wie er ging, daran sah man, dass er erst zwanzig war. Er setzte sich mit seinem alten Gesicht zu ihnen auf die Bank. Und dann zeigte er ihnen, was er in der Hand trug.

Es ist eine Küchenuhr, die der auffällige Mann in der gleichnamigen Erzählung von Wolfgang Borchert in der Hand trägt - eine tellerweiße Küchenuhr mit blau gemalten Zahlen. "Und sie ist übriggeblieben", sagt der Mann. Und sie ist kaputt. Der Mann erklärt ganz aufgeregt: "Denken Sie mal, sie ist um halb drei stehengeblieben. Ausgerechnet um halb drei. Denken Sie mal!"

Die Leute auf der Bank denken, das Haus des Mannes wurde um halb drei Uhr von einer Bombe getroffen. Aber er erklärt ihnen: Nein, um hab drei ist er immer nach Hause gekommen. Und wenn er dann in der dunklen Küche nach etwas Essbarem suchte, ging jedes Mal das Licht an und seine Mutter kam. Und die Erzählung fährt fort: So spät wieder, sagte sie dann. Mehr sagte sie nie. Nur: So spät wieder. Und dann machte sie mir das Abendbrot warm und sah zu, wie ich aß. Dabei scheuerte sie immer die Füße aneinander, weil die Kacheln so kalt waren. Schuhe zog sie nachts nie an. Und sie saß so lange bei mir, bis ich satt war.

Aber die Mutter lebt nicht mehr, die ganze Familie ist beim Bombenangriff ums Leben gekommen Und von der Wohnung ist nur die Küchenuhr geblieben. Weil die anderen ihn nicht ansehen, sagt der Mann seiner Küchenuhr in das weißblaue Gesicht: "Jetzt, jetzt weiß ich, dass es das Paradies war. Das richtige Paradies."

Als ich Wolfgang Borcherts Erzählung "Die Küchenuhr" mit siebzehn zum ersten Mal las, war das Aufstehen meiner Mutter, wenn ich spät in der Nacht heimkam, für mich alles andere als das Paradies. Aber jetzt, gut zehn Jahre nach ihrem Tod, schaue ich beim Kochen auf ihre Küchenuhr. Und die Erinnerung an sie hat trotz allem etwas von einem Paradies. Dass ich das erkenne, dazu hat auch Wolfgang Borcherts Erzählung "Die Küchenuhr" beigetragen.

Service

Michael Töteberg (Hg.), "Wolfgang Borchert. Das Gesamtwerk", Rowohlt Verlag
Wolfgang Borchert, "Draußen vor der Tür und andere Werke", Verlag Reclam
Wolfgang Borchert, "Draußen vor der Tür und ausgewählte Erzählungen", Verlag Rowohlt
Peter Rühmkorf (Hg.), "Wolfgang Borchert. Die traurigen Geranien und andere Geschichten aus dem Nachlass", Verlag Rowohlt
Gordon J. A. Burgess (Hg.) und Michael Töteberg (Hg.), "Wolfgang Borchert. Allein mit meinem Schatten und dem Mond", Verlag Rowohlt
Gordon Burgess, "Ich glaube an mein Glück. Eine Biographie", Aufbau Taschenbuchverlag

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Earl Hines/1903 - 1983
Album: JAZZ TRIBUNE Nr.10 / THE COMPLETE SIDNEY BECHET VOL.1/2 (1932-41)
Titel: Blues in thirds/instr.
Ausführende: Sidney Bechet Trio
Ausführender/Ausführende: Sidney Bechet /Klarinette
Ausführender/Ausführende: Earl Hines /Piano
Ausführender/Ausführende: Warren "Baby" Dodds /Drums
Länge: 02:57 min
Label: RCA ND 89760 (2 CD)

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