Ilse Aichinger, 199

APA/DPA/MARTINA HELLMANN

Gedanken für den Tag

Cornelius Hell über Ilse Aichinger

"Aufruf zum Misstrauen". Der Literaturkritiker und Übersetzer Cornelius Hell über die österreichische Schriftstellerin anlässlich deren 100. Geburtstages

Anfang der 1990er Jahre, als ich noch in Salzburg lebte, hatte ich einen Tag in Wien zu tun und ging zum Mittagessen in ein griechisches Restaurant in der Argentinierstraße, unweit vom ORF-Funkhaus. Nach der Bestellung gehorchte ich einem plötzlichen Zwang, mich umzusetzen, um die Tür im Blick zu haben - und lachte über mich selbst, denn wer sollte schon kommen, ich kannte ja noch fast niemanden in Wien.

Wenige Minuten danach kam Ilse Aichinger zur Tür herein, und wir freuten uns über das Wiedersehen und das gemeinsame Mittagessen. Und damit begann eine Reihe solcher Begegnungen: Ich fuhr in Salzburg zum Bahnhof, konnte aber alles, was ich dort tun wollte, nicht erledigen, doch Ilse Aichinger kam gerade vom Zug, und mir kam vor, ich wäre nur deshalb zum Bahnhof gefahren. Später lief ich ihr in Wien am Stephansplatz fast in die Arme, und als ich einmal in den Augarten zum "Kino unter Sternen" ging, kam sie gerade beim Tor heraus.

Manchmal ist mir, als wäre an diesen Orten noch etwas von ihr anwesend. Wie auch an meinem großen mahagoniroten Tisch, der seit dreißig Jahren zu meinem Leben gehört. Denn hier habe ich mit ihr gegessen und ein langes Gespräch für den Bayerischen Rundfunk aufgenommen, weil ich Angst hatte, die technische Umgebung eines Studios würde sie verstummen lassen. Es blieb das einzige Interview, das ich in meiner Wohnung geführt habe.

Am meisten aber spüre ich Ilse Aichingers Anwesenheit, wenn ich ihr Gedicht "Widmung" lese. Ich kann es in seinem Ineinander von Präzision und Märchenton, von Naturbildern und religiösem Vokabular nicht erklären, aber ich höre darin den Tonfall von Ilse Aichingers Dichtung und ihre eigene Stimme:
Widmung

Ich schreibe euch keine Briefe,
aber es wäre mir leicht, mit euch zu
sterben.
Wir ließen uns sacht die Monde hinunter
und läge die erste Rast noch bei den
wollenen Herzen,
die zweite fände uns schon mit Wölfen
und Himbeergrün
und dem nichts lindernden Feuer, die
dritte, da wär ich
durch das fallende dünne Gewölk mit
seinen spärlichen Moosen
und das arme Gewimmel der Sterne, das
wir so leicht überschritten,
in eurem Himmel bei euch.

Service

Literatur:

Ilse Aichinger: Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, Hg. Richard Reichensperger, Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 1991
Die Bände sind auch einzeln erhältlich.

Weitere in der Sendung zitierte Werke von Ilse Aichinger:

Ilse Aichinger: Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 2003 - enthält die Staatspreisrede vom 20. März 1996 nachzulesen (Der Boden unter unseren Füßen)

Ilse Aichinger: Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946-2005, Hg. Andrea Dittrich. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021

Ilse Aichinger: Es muss gar nichts bleiben. Interviews 1952-2005. Hg. und Nachwort von Simone Fässler. Edition Korrespondenzen 2011 (der Band enthält das Gespräch mit Cornelius Hell: Dazwischen ist sehr viel Schweigen)


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Sendereihe

Gestaltung

Übersicht

Playlist

Komponist/Komponistin: Ludovico Einaudi
Gesamttitel: Nomadland / Original Filmmusik
Titel: Seven Days Walking / Day 1 - Golden butterflies/instr.
Solist/Solistin: Ludovico Einaudi /Klavier m.Begl.
Ausführender/Ausführende: Redi Hasa /Violoncello
Ausführender/Ausführende: Federico Mecozzi /Violine, Viola
Länge: 05:48 min
Label: Decca/Universal Promo

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