Anna Weidenholzer über Unter Grund

7. Februar 2022, 06:56

Ich war weit unter Grund, als ich begann, über das Wort Empathie nachzudenken. Bei meiner letzten Reise nach London begegnete ich in der U-Bahn dem Aufruf, man solle Mund und Nase bedecken und dabei beachten, dass jene, die keine Masken trugen, möglicherweise aus triftigem Grund von dieser Regel befreit seien. Als ich ein paar Tage später vor einer öffentlichen Toilette auf meinen Partner und unser Baby wartete, stach mir ein ähnlicher Hinweis ins Auge. Es sei zu bedenken, las ich, dass jene, die eine Behindertentoilette aufsuchten, vielleicht keine sichtbare Beeinträchtigung hätten, aber trotzdem auf diese Toilette angewiesen seien.
2021: Vermehrte Empathieaufrufe im öffentlichen Raum, schrieb ich und fotografierte den Boden, ein gesprenkeltes Grau. Die Tür zur Behindertentoilette öffnete sich, ein großer Mann mit Mund-Nasen-Schutz unter dem Kinn kam heraus, er zog einen kleinen Koffer hinter sich her.
Sich auf die andere Seite begeben, sich in das Gegenüber hineindenken, mitfühlen. Gäbe es einen Kriterienkatalog für Autor/innen, dürfte Empathie nicht fehlen. Aber was bedeutet dieser verhältnismäßig junge Begriff, der erst Anfang des 20. Jahrhunderts über eine Rückübersetzung aus dem Englischen den Weg ins Deutsche fand, und der als eine grundlegende Eigenschaft unseres Menschseins gilt? Wie weit trägt uns Empathie? Wo verlaufen ihre Ränder?
Frans de Waal, Primatologe und Verhaltensforscher, umschreibt Empathie als "Eins-Fühlen mit dem Zustand eines anderen", dem "Teilen des geistigen Zustands eines anderen mittels körperlicher Kommunikation".
Ich sah dem Mann nach, wie er seinen Koffer zog, ich dachte an meinen kleinen grauen Koffer, der mich lange Zeit begleitet hatte, dessen Räder so schwach waren, dass er sich nur schleifen ließ, und ich fragte mich, ob dieses Gefühl genügte, mich in den anderen hineinzuversetzen.

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• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler