Eric Frey über Schawuot

8. Juni 2022, 06:56

Wer Judentum verstehen will, muss sich der zentralen Rolle der Gesetze bewusst werden. Judentum ist genauso eine Rechtsordnung wie eine Religion. Man könnte sagen: Die Tora, an deren Übergabe an Moses auf dem Berg Sinai in dieser Woche gedacht wird, ist die Verfassung.

Der Talmud, vor knapp 2000 Jahren entstanden, das Gesetzbuch, die Responsen der Rabbiner bis ins Mittelalter sind die Verordnungen, und diese bilden die Halacha, das kodifizierte Recht. Für strenggläubige Jüdinnen und Juden ist das Einhalten aller Verbote und Gebote das Wichtigste im Leben. Das schafft gewaltige Herausforderungen im Alltag.

An diese Probleme gehen orthodoxe Rabbiner wie Juristen heran. Das Verbot, am Schabbat ein Feuer zu entfachen, bedeutet, dass kein Stromimpuls ausgelöst werden darf. Aber wie gelangt man in die Wohnung im 20. Stock, wenn man den Aufzug nicht bedienen darf? Da hilft der Schabbat-Lift, der in jedem Stockwerk stehen bleibt, ohne dass ein Knopf gedrückt werden muss. Oder das Verbot, am Schabbat außerhalb des eigenen Hauses irgendetwas zu tragen: Das bedeutet, Eltern können mit Kleinkindern nicht spazieren gehen. Die Lösung ist der Eruw: Rund um ganze Stadtteile, in denen orthodoxe Juden leben, wird zwischen den Mauern ein dünner Draht gespannt, der symbolisch alles in ein Haus verwandelt.

Ist das Betrug oder Scheinheiligkeit, wie manche sagen? Nein, genauso suchen kluge Anwälte innerhalb der Gesetze für ihre Klienten die besten Lösungen. Liberale Jüdinnen und Juden gehen einen anderen Weg: Sie fragen sich, wie die Gebote zum Schabbat lauten würden, wenn Moses heute am Berg Sinai stünde. Vielleicht, den Tag mit der Familie verbringen, das Handy beiseitelegen, die Emails des Chefs nicht zu beantworten. Auch das ist ein Weg, ein bewusst jüdisches Leben zu führen.

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• Alexandra Mantler