Boris, der Brexit und die Midlands

16. Juli 2022, 17:05

Die Corona-Sommerwelle ist auch an der Diagonal-Redaktion nicht spurlos vorübergezogen. Die geplante Sendung zum Thema "Nicht-binär: Queer durch die Genderpolitik" muss daher leider absagt werden. Wir werden sie bei späterer Gelegenheit nachholen. Die pandemische Not gereicht uns aber zur anlassgegebenen Tugend.

"Get Brexit Done"

Mit dem simplen Mantra "Get Brexit Done" - "den Brexit erledigen" - führte Premierminister Boris Johnson die britischen Konservativen im Dezember 2019 in ihren größten Wahlsieg seit 1987. Vergangene Woche ist Johnson als Parteivorsitzender der Torys zurückgetreten. Sein Rückzug als Premierminister folge, sobald die Nachfolge geklärt sei, verlautbarte Johnson.

Aber selbst alte Parteifreunde forderten Boris Johnsons sofortige Amtsniederlegung und die Opposition drängt auf Neuwahlen. Indes wird Johnsons politisch wichtigstes Erbe einer kritischen Revision unterzogen. Der Brexit nämlich sei alles andere als "done", heißt es in britischen Medien von links bis rechts. Auch das "neue goldene Zeitalter", das der Brexit-Premier dem Vereinigten Königreich 2019 gewohnt vollmundig versprochen hatte, lässt bis dato auf sich warten. Im nächsten Jahr soll Großbritannien laut OECD das niedrigste Wirtschaftswachstum in der G20 haben, abgesehen vom sanktionierten Russland.

Nicht zuletzt verblasst Johnsons Brexit-Gloriole im Angesicht der öffentlichen Meinung: Nach jüngsten Umfragen sind nur rund 30% der Bevölkerung des Vereinigten Königreichs vom Erfolg des Unternehmens überzeugt. Über die Hälfte der Befragten meint, dass der Brexit schlecht gelaufen ist.

Wie die Stimmung kurz vor den britischen Unterhauswahlen und wenige Monate vor dem Austrittsdatum war, hat Diagonal im Herbst 2019 in den englischen Midlands dokumentiert.

Ein freudloser Landstrich

.... mit großen Fabrikschloten, deren Rauch das Licht verdunkelt und die Luft verpestet: So beschreibt Charles Dickens in seiner Erzählung "The old curiosity shop" das Black Country in den West Midlands.

Die industrielle Revolution hat in der geografischen Mitte Englands ihre Narben hinterlassen, auch wenn die Hochöfen längst verschwunden sind. Seit sich auch die Autoindustrie zurückzieht, gelten die Midlands als strukturschwache Problemregion. Nur im Norden Englands ist das Pro-Kopf-Einkommen geringer.

Aber die Midlands sind ein Land der Kontraste: wer die Industriemetropolen, allen voran Birmingham oder Coventry, hinter sich lässt, findet sich in einer agrarisch geprägten Bilderbuchlandschaft wieder.

Die Bruchlinie zeigte sich auch beim EU-Referendum im Jahr 2016: nirgendwo sonst im Vereinigten Königreich sprachen sich mehr Menschen für den Brexit aus als in den ländlichen Regionen der Midlands, während sich in den urbanen Zentren Brexit-Befürworter und Gegner die Waage hielten. Ironie der Geschichte: laut Prognosen wird gerade das englische "Heartland" am meisten unter den Brexit-Folgen leiden.

Eine Sendung von Bea Sommersguter, Roman Tschiedl und Robert Rotifer.

Erstausstrahlung: 21.12.2019

Service

Who will replace Boris Johnson?, bbc.com, 15. Juli 2022

Brexit Monitor - Aktuelle Zahlen zum Brexit, Statistisches Bundesamt Deutschland

Carl Chinn & Malcolm Dick, "Birmingham. The Workshop of the World", Liverpool University Press, 2016

Carl Chinn, "Black Country Memories", Bd. 1-5, Black Country Books

Emma Purshouse, "Close", Offaspress, 2018

Charles Dickens, "Der Raritätenladen", Suhrkamp/Insel, 2011

Alan Moore, "Jerusalem", Knockabout, 2016

Jonathan Coe, "Middle England", Aus dem Englischen von Catherine Hornung und Dieter Fuchs, Folio, 2020

Kristian Shaw, "Brexlit. British Literature and the European Project", Bloomsbury, 2021

Grimsby Fish Market

EU in Brum

Poets, Prattlers & Pandemonialists

Shrewsbury Festival of Literature

Melton Mowbray Market

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